Dichtung ist leidenschaftliche Rede, deren bewegter Klang die Weise; insofern ist kein Volk ohne Poesie und Musik. Allein zu den poetisch vorzugsweise begabten Nationen gehört und gehörte die italienische keineswegs; es fehlt dem Italiener die Leidenschaft des Herzens, die Sehnsucht das Menschliche zu idealisiren und das Leblose zu vermenschlichen ebenso wie der rechte Sinn für Melodie. Darum bringt er es in der lyrischen und epischen wie in der höheren dramatischen Dicht- kunst und nicht minder in der Musik selten über Fertigkeiten. Sein scharfer Blick und seine anmuthige Gewandtheit lassen ihm die Causerie und Anekdote in der Art von Horatius und Boccaccio, den launigen Liebes- und Liederscherz, wie Catullus und die besten der heutigen Volkslieder ihn zeigen, die nie- dere Komödie und die Posse, vor allem aber die Rhetorik und die Schauspielkunst leicht gelingen; und selbst die höch- sten in Italien gelungenen Leistungen, göttliche Gedichte wie Dante's Commedia und Geschichtbücher wie Sallustius und Macchiavelli, Tacitus und Colletta sind doch von einer im Verstande mehr als im Herzen wurzelnden, mehr rhetorischen als naiven Leidenschaft getragen. -- Eigentliche Sagenbildung ist dem Italiker fremd. Seine Götter sind Begriffe, welche zu rechter persönlicher Gestaltung überhaupt nicht und am wenigsten in der frischen Urzeit gediehen und keine Lebens- geschichte mit Liebesfahrten und Kämpfen entwickelten; die
KAPITEL XV.
Die Kunst.
Dichtung ist leidenschaftliche Rede, deren bewegter Klang die Weise; insofern ist kein Volk ohne Poesie und Musik. Allein zu den poetisch vorzugsweise begabten Nationen gehört und gehörte die italienische keineswegs; es fehlt dem Italiener die Leidenschaft des Herzens, die Sehnsucht das Menschliche zu idealisiren und das Leblose zu vermenschlichen ebenso wie der rechte Sinn für Melodie. Darum bringt er es in der lyrischen und epischen wie in der höheren dramatischen Dicht- kunst und nicht minder in der Musik selten über Fertigkeiten. Sein scharfer Blick und seine anmuthige Gewandtheit lassen ihm die Causerie und Anekdote in der Art von Horatius und Boccaccio, den launigen Liebes- und Liederscherz, wie Catullus und die besten der heutigen Volkslieder ihn zeigen, die nie- dere Komödie und die Posse, vor allem aber die Rhetorik und die Schauspielkunst leicht gelingen; und selbst die höch- sten in Italien gelungenen Leistungen, göttliche Gedichte wie Dante's Commedia und Geschichtbücher wie Sallustius und Macchiavelli, Tacitus und Colletta sind doch von einer im Verstande mehr als im Herzen wurzelnden, mehr rhetorischen als naiven Leidenschaft getragen. — Eigentliche Sagenbildung ist dem Italiker fremd. Seine Götter sind Begriffe, welche zu rechter persönlicher Gestaltung überhaupt nicht und am wenigsten in der frischen Urzeit gediehen und keine Lebens- geschichte mit Liebesfahrten und Kämpfen entwickelten; die
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KAPITEL XV.
Die Kunst.
Dichtung ist leidenschaftliche Rede, deren bewegter Klang
die Weise; insofern ist kein Volk ohne Poesie und Musik.
Allein zu den poetisch vorzugsweise begabten Nationen gehört
und gehörte die italienische keineswegs; es fehlt dem Italiener
die Leidenschaft des Herzens, die Sehnsucht das Menschliche
zu idealisiren und das Leblose zu vermenschlichen ebenso
wie der rechte Sinn für Melodie. Darum bringt er es in der
lyrischen und epischen wie in der höheren dramatischen Dicht-
kunst und nicht minder in der Musik selten über Fertigkeiten.
Sein scharfer Blick und seine anmuthige Gewandtheit lassen
ihm die Causerie und Anekdote in der Art von Horatius und
Boccaccio, den launigen Liebes- und Liederscherz, wie Catullus
und die besten der heutigen Volkslieder ihn zeigen, die nie-
dere Komödie und die Posse, vor allem aber die Rhetorik
und die Schauspielkunst leicht gelingen; und selbst die höch-
sten in Italien gelungenen Leistungen, göttliche Gedichte wie
Dante's Commedia und Geschichtbücher wie Sallustius und
Macchiavelli, Tacitus und Colletta sind doch von einer im
Verstande mehr als im Herzen wurzelnden, mehr rhetorischen
als naiven Leidenschaft getragen. — Eigentliche Sagenbildung
ist dem Italiker fremd. Seine Götter sind Begriffe, welche
zu rechter persönlicher Gestaltung überhaupt nicht und am
wenigsten in der frischen Urzeit gediehen und keine Lebens-
geschichte mit Liebesfahrten und Kämpfen entwickelten; die
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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. [146]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/160>, abgerufen am 29.11.2023.
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