Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

LITTERATUR UND KUNST.
aufgingen über die unvergleichliche Herrlichkeit der griechischen
Poesie und Kunst und über die sehr bescheidene künstlerische
Begabung der eigenen Nation. Die Litteratur des sechsten Jahr-
hunderts war hervorgegangen aus der Einwirkung der griechi-
schen Kunst auf halb gebildete, aber angeregte und empfängliche
Gemüther. Die gesteigerte hellenische Bildung des siebenten rief
eine litterarische Reaction hervor, welche die in jenen naiven
Nachdichtungsversuchen doch auch enthaltenen Blüthenkeime mit
dem Winterfrost der Reflexion verdarb und Kraut und Unkraut
der älteren Richtung mit einander ausreutete. Der Kreis, in dem
diese Reaction zunächst und hauptsächlich sich Geltung verschafft
hat, ist derjenige, der um Scipio Aemilianus sich schloss und des-
sen hervorragendste Glieder unter der römischen vornehmen Welt
ausser Scipio dessen älterer Freund und Berather Laelius und Sci-
pios jüngere Genossen, Lucius Furius Philus (Consul 618) und
Spurius Mummius, der Bruder des Zerstörers von Korinth, unter
den römischen und griechischen Litteraten der Komiker Teren-
tius, der Satirenschreiber Lucilius, der Geschichtschreiber Poly-
bios, der Philosoph Panaetios waren. Wem die Ilias, wem
Menandros und Xenophon geläufig waren, dem konnte der rö-
mische Homer nicht imponiren und noch weniger die schlechten
Uebersetzungen euripideischer Tragödien, wie Ennius sie geliefert
hatte und Pacuvius sie zu liefern fortfuhr. Mochten auch patrio-
tische Rücksichten der Kritik gegen die vaterländische Chronik
Schranken stecken, so richtete doch Lucilius sehr spitzige Pfeile
gegen ,die traurigen Figuren aus den geschraubten Expositionen
des Pacuvius'; und ähnliche strenge aber nicht ungerechte Kritiken
des Ennius, Plautus, Pacuvius, all dieser Dichter, ,die einen Frei-
brief zu haben scheinen, schwülstig zu reden und unlogisch zu
schliessen', begegnen bei dem feinen Verfasser der am Schluss
dieser Periode geschriebenen dem Herennius gewidmeten Rhe-
torik. Man zuckte die Achseln über die Interpolationen, mit denen
der derbe römische Volkswitz die eleganten Komödien des Phi-
lemon und des Diphilos staffirt hatte. Halb lächelnd, halb nei-
disch wandte man sich ab von diesen unzulänglichen Versuchen
einer dumpfen Zeit, die diesem Kreise erscheinen mochten etwa
wie dem gereiften Mann die Gedichtblätter aus seiner Jugend;
auf die Verpflanzung des Wunderbaumes verzichtend liess man in
Poesie und Prosa die höheren Kunstgattungen wesentlich fallen
und beschränkte sich hier darauf der Meisterwerke des Auslan-
des einsichtig sich zu erfreuen. Die Productivität dieser Epoche
bewegt sich vorwiegend auf den untergeordneten Gebieten, der

LITTERATUR UND KUNST.
aufgingen über die unvergleichliche Herrlichkeit der griechischen
Poesie und Kunst und über die sehr bescheidene künstlerische
Begabung der eigenen Nation. Die Litteratur des sechsten Jahr-
hunderts war hervorgegangen aus der Einwirkung der griechi-
schen Kunst auf halb gebildete, aber angeregte und empfängliche
Gemüther. Die gesteigerte hellenische Bildung des siebenten rief
eine litterarische Reaction hervor, welche die in jenen naiven
Nachdichtungsversuchen doch auch enthaltenen Blüthenkeime mit
dem Winterfrost der Reflexion verdarb und Kraut und Unkraut
der älteren Richtung mit einander ausreutete. Der Kreis, in dem
diese Reaction zunächst und hauptsächlich sich Geltung verschafft
hat, ist derjenige, der um Scipio Aemilianus sich schloſs und des-
sen hervorragendste Glieder unter der römischen vornehmen Welt
auſser Scipio dessen älterer Freund und Berather Laelius und Sci-
pios jüngere Genossen, Lucius Furius Philus (Consul 618) und
Spurius Mummius, der Bruder des Zerstörers von Korinth, unter
den römischen und griechischen Litteraten der Komiker Teren-
tius, der Satirenschreiber Lucilius, der Geschichtschreiber Poly-
bios, der Philosoph Panaetios waren. Wem die Ilias, wem
Menandros und Xenophon geläufig waren, dem konnte der rö-
mische Homer nicht imponiren und noch weniger die schlechten
Uebersetzungen euripideischer Tragödien, wie Ennius sie geliefert
hatte und Pacuvius sie zu liefern fortfuhr. Mochten auch patrio-
tische Rücksichten der Kritik gegen die vaterländische Chronik
Schranken stecken, so richtete doch Lucilius sehr spitzige Pfeile
gegen ‚die traurigen Figuren aus den geschraubten Expositionen
des Pacuvius‘; und ähnliche strenge aber nicht ungerechte Kritiken
des Ennius, Plautus, Pacuvius, all dieser Dichter, ‚die einen Frei-
brief zu haben scheinen, schwülstig zu reden und unlogisch zu
schlieſsen‘, begegnen bei dem feinen Verfasser der am Schluſs
dieser Periode geschriebenen dem Herennius gewidmeten Rhe-
torik. Man zuckte die Achseln über die Interpolationen, mit denen
der derbe römische Volkswitz die eleganten Komödien des Phi-
lemon und des Diphilos staffirt hatte. Halb lächelnd, halb nei-
disch wandte man sich ab von diesen unzulänglichen Versuchen
einer dumpfen Zeit, die diesem Kreise erscheinen mochten etwa
wie dem gereiften Mann die Gedichtblätter aus seiner Jugend;
auf die Verpflanzung des Wunderbaumes verzichtend lieſs man in
Poesie und Prosa die höheren Kunstgattungen wesentlich fallen
und beschränkte sich hier darauf der Meisterwerke des Auslan-
des einsichtig sich zu erfreuen. Die Productivität dieser Epoche
bewegt sich vorwiegend auf den untergeordneten Gebieten, der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0421" n="411"/><fw place="top" type="header">LITTERATUR UND KUNST.</fw><lb/>
aufgingen über die unvergleichliche Herrlichkeit der griechischen<lb/>
Poesie und Kunst und über die sehr bescheidene künstlerische<lb/>
Begabung der eigenen Nation. Die Litteratur des sechsten Jahr-<lb/>
hunderts war hervorgegangen aus der Einwirkung der griechi-<lb/>
schen Kunst auf halb gebildete, aber angeregte und empfängliche<lb/>
Gemüther. Die gesteigerte hellenische Bildung des siebenten rief<lb/>
eine litterarische Reaction hervor, welche die in jenen naiven<lb/>
Nachdichtungsversuchen doch auch enthaltenen Blüthenkeime mit<lb/>
dem Winterfrost der Reflexion verdarb und Kraut und Unkraut<lb/>
der älteren Richtung mit einander ausreutete. Der Kreis, in dem<lb/>
diese Reaction zunächst und hauptsächlich sich Geltung verschafft<lb/>
hat, ist derjenige, der um Scipio Aemilianus sich schlo&#x017F;s und des-<lb/>
sen hervorragendste Glieder unter der römischen vornehmen Welt<lb/>
au&#x017F;ser Scipio dessen älterer Freund und Berather Laelius und Sci-<lb/>
pios jüngere Genossen, Lucius Furius Philus (Consul 618) und<lb/>
Spurius Mummius, der Bruder des Zerstörers von Korinth, unter<lb/>
den römischen und griechischen Litteraten der Komiker Teren-<lb/>
tius, der Satirenschreiber Lucilius, der Geschichtschreiber Poly-<lb/>
bios, der Philosoph Panaetios waren. Wem die Ilias, wem<lb/>
Menandros und Xenophon geläufig waren, dem konnte der rö-<lb/>
mische Homer nicht imponiren und noch weniger die schlechten<lb/>
Uebersetzungen euripideischer Tragödien, wie Ennius sie geliefert<lb/>
hatte und Pacuvius sie zu liefern fortfuhr. Mochten auch patrio-<lb/>
tische Rücksichten der Kritik gegen die vaterländische Chronik<lb/>
Schranken stecken, so richtete doch Lucilius sehr spitzige Pfeile<lb/>
gegen &#x201A;die traurigen Figuren aus den geschraubten Expositionen<lb/>
des Pacuvius&#x2018;; und ähnliche strenge aber nicht ungerechte Kritiken<lb/>
des Ennius, Plautus, Pacuvius, all dieser Dichter, &#x201A;die einen Frei-<lb/>
brief zu haben scheinen, schwülstig zu reden und unlogisch zu<lb/>
schlie&#x017F;sen&#x2018;, begegnen bei dem feinen Verfasser der am Schlu&#x017F;s<lb/>
dieser Periode geschriebenen dem Herennius gewidmeten Rhe-<lb/>
torik. Man zuckte die Achseln über die Interpolationen, mit denen<lb/>
der derbe römische Volkswitz die eleganten Komödien des Phi-<lb/>
lemon und des Diphilos staffirt hatte. Halb lächelnd, halb nei-<lb/>
disch wandte man sich ab von diesen unzulänglichen Versuchen<lb/>
einer dumpfen Zeit, die diesem Kreise erscheinen mochten etwa<lb/>
wie dem gereiften Mann die Gedichtblätter aus seiner Jugend;<lb/>
auf die Verpflanzung des Wunderbaumes verzichtend lie&#x017F;s man in<lb/>
Poesie und Prosa die höheren Kunstgattungen wesentlich fallen<lb/>
und beschränkte sich hier darauf der Meisterwerke des Auslan-<lb/>
des einsichtig sich zu erfreuen. Die Productivität dieser Epoche<lb/>
bewegt sich vorwiegend auf den untergeordneten Gebieten, der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[411/0421] LITTERATUR UND KUNST. aufgingen über die unvergleichliche Herrlichkeit der griechischen Poesie und Kunst und über die sehr bescheidene künstlerische Begabung der eigenen Nation. Die Litteratur des sechsten Jahr- hunderts war hervorgegangen aus der Einwirkung der griechi- schen Kunst auf halb gebildete, aber angeregte und empfängliche Gemüther. Die gesteigerte hellenische Bildung des siebenten rief eine litterarische Reaction hervor, welche die in jenen naiven Nachdichtungsversuchen doch auch enthaltenen Blüthenkeime mit dem Winterfrost der Reflexion verdarb und Kraut und Unkraut der älteren Richtung mit einander ausreutete. Der Kreis, in dem diese Reaction zunächst und hauptsächlich sich Geltung verschafft hat, ist derjenige, der um Scipio Aemilianus sich schloſs und des- sen hervorragendste Glieder unter der römischen vornehmen Welt auſser Scipio dessen älterer Freund und Berather Laelius und Sci- pios jüngere Genossen, Lucius Furius Philus (Consul 618) und Spurius Mummius, der Bruder des Zerstörers von Korinth, unter den römischen und griechischen Litteraten der Komiker Teren- tius, der Satirenschreiber Lucilius, der Geschichtschreiber Poly- bios, der Philosoph Panaetios waren. Wem die Ilias, wem Menandros und Xenophon geläufig waren, dem konnte der rö- mische Homer nicht imponiren und noch weniger die schlechten Uebersetzungen euripideischer Tragödien, wie Ennius sie geliefert hatte und Pacuvius sie zu liefern fortfuhr. Mochten auch patrio- tische Rücksichten der Kritik gegen die vaterländische Chronik Schranken stecken, so richtete doch Lucilius sehr spitzige Pfeile gegen ‚die traurigen Figuren aus den geschraubten Expositionen des Pacuvius‘; und ähnliche strenge aber nicht ungerechte Kritiken des Ennius, Plautus, Pacuvius, all dieser Dichter, ‚die einen Frei- brief zu haben scheinen, schwülstig zu reden und unlogisch zu schlieſsen‘, begegnen bei dem feinen Verfasser der am Schluſs dieser Periode geschriebenen dem Herennius gewidmeten Rhe- torik. Man zuckte die Achseln über die Interpolationen, mit denen der derbe römische Volkswitz die eleganten Komödien des Phi- lemon und des Diphilos staffirt hatte. Halb lächelnd, halb nei- disch wandte man sich ab von diesen unzulänglichen Versuchen einer dumpfen Zeit, die diesem Kreise erscheinen mochten etwa wie dem gereiften Mann die Gedichtblätter aus seiner Jugend; auf die Verpflanzung des Wunderbaumes verzichtend lieſs man in Poesie und Prosa die höheren Kunstgattungen wesentlich fallen und beschränkte sich hier darauf der Meisterwerke des Auslan- des einsichtig sich zu erfreuen. Die Productivität dieser Epoche bewegt sich vorwiegend auf den untergeordneten Gebieten, der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/421
Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/421>, abgerufen am 18.04.2024.