Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

V. Geschichte meiner Verirrungen an Herrn Pastor W*** in H***.

Jch soll Jhnen ein Gemählde meines Lebens aufstellen; soll alle meine Verirrungen und Fehltritte Jhnen treu und aufrichtig erzählen, soll sie in ihren ersten Quellen aufsuchen, die kleinen Triebfedern, die von außen auf mich wirkten, und durch die ich das wurde, was ich bin -- bemerken -- werde ich auch zu diesem schweren Geschäft genug Wahrheitsliebe, genug Scharfsinn, genug Selbstüberwindung besitzen, ohne meine Erröthung -- die eine unausbleibliche Folge davon seyn wird -- zu scheuen? Wird mein starker Trieb nach Menschenbeifall auch dieses zulassen? Und werde ich mich nicht mit niedergeschlagnen Augen Jhnen nahen, wenn Sie nach Lesung dieses meines Geständnisses -- dessen Veranlassung nur Sie wissen, und -- nur Sie interessiren kann -- ausrufen werden: ists möglich! Aber Sie sind auch Philosoph; Jhnen kann ich mich sicherer anvertrauen als -- dem bloßen Handwerkstheologen (verzeihen Sie mir diesen etwas unschicklichen Ausdruck) der sich nie in das Heiligthum menschlicher Schwäche gewagt, noch ihre Triebfedern hat kennen lernen, und der mit kaltem Herzen den Bannstrahl des Gesetzes auf den Unglücklichen loßschleudert -- ohne etwas zu seiner


V. Geschichte meiner Verirrungen an Herrn Pastor W*** in H***.

Jch soll Jhnen ein Gemaͤhlde meines Lebens aufstellen; soll alle meine Verirrungen und Fehltritte Jhnen treu und aufrichtig erzaͤhlen, soll sie in ihren ersten Quellen aufsuchen, die kleinen Triebfedern, die von außen auf mich wirkten, und durch die ich das wurde, was ich bin ― bemerken ― werde ich auch zu diesem schweren Geschaͤft genug Wahrheitsliebe, genug Scharfsinn, genug Selbstuͤberwindung besitzen, ohne meine Erroͤthung ― die eine unausbleibliche Folge davon seyn wird ― zu scheuen? Wird mein starker Trieb nach Menschenbeifall auch dieses zulassen? Und werde ich mich nicht mit niedergeschlagnen Augen Jhnen nahen, wenn Sie nach Lesung dieses meines Gestaͤndnisses ― dessen Veranlassung nur Sie wissen, und ― nur Sie interessiren kann ― ausrufen werden: ists moͤglich! Aber Sie sind auch Philosoph; Jhnen kann ich mich sicherer anvertrauen als ― dem bloßen Handwerkstheologen (verzeihen Sie mir diesen etwas unschicklichen Ausdruck) der sich nie in das Heiligthum menschlicher Schwaͤche gewagt, noch ihre Triebfedern hat kennen lernen, und der mit kaltem Herzen den Bannstrahl des Gesetzes auf den Ungluͤcklichen loßschleudert ― ohne etwas zu seiner

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0036" n="36"/><lb/><lb/>
          </div>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#aq">V</hi>.                 Geschichte meiner Verirrungen an Herrn Pastor W*** in H***. </head><lb/>
            <note type="editorial">
              <bibl>
                <persName ref="#ref172"><note type="editorial"/>Anonym</persName>
              </bibl>
            </note>
            <p>Jch soll Jhnen ein Gema&#x0364;hlde meines Lebens aufstellen; soll                         alle meine Verirrungen und Fehltritte Jhnen treu und aufrichtig erza&#x0364;hlen,                         soll sie in ihren ersten Quellen aufsuchen, die kleinen Triebfedern, die von                         außen auf mich wirkten, und durch die ich <hi rendition="#b">das</hi> wurde, was ich bin &#x2015; bemerken &#x2015; werde ich auch zu diesem schweren Gescha&#x0364;ft                         genug Wahrheitsliebe, genug Scharfsinn, genug Selbstu&#x0364;berwindung besitzen,                         ohne meine Erro&#x0364;thung &#x2015; die eine unausbleibliche Folge davon seyn wird &#x2015; zu                         scheuen? Wird mein starker Trieb nach Menschenbeifall auch dieses zulassen?                         Und werde ich mich nicht mit niedergeschlagnen Augen Jhnen nahen, wenn Sie                         nach Lesung dieses meines Gesta&#x0364;ndnisses &#x2015; dessen Veranlassung nur Sie                         wissen, und &#x2015; nur Sie interessiren kann &#x2015; ausrufen werden: ists mo&#x0364;glich!                         Aber Sie sind auch Philosoph; Jhnen kann ich mich sicherer anvertrauen als &#x2015;                         dem bloßen Handwerkstheologen (verzeihen Sie mir diesen etwas unschicklichen                         Ausdruck) der sich nie in das Heiligthum menschlicher Schwa&#x0364;che gewagt, noch                         ihre Triebfedern hat kennen lernen, und der mit kaltem Herzen den Bannstrahl                         des Gesetzes auf den Unglu&#x0364;cklichen loßschleudert &#x2015; ohne etwas zu seiner<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0036] V. Geschichte meiner Verirrungen an Herrn Pastor W*** in H***. Jch soll Jhnen ein Gemaͤhlde meines Lebens aufstellen; soll alle meine Verirrungen und Fehltritte Jhnen treu und aufrichtig erzaͤhlen, soll sie in ihren ersten Quellen aufsuchen, die kleinen Triebfedern, die von außen auf mich wirkten, und durch die ich das wurde, was ich bin ― bemerken ― werde ich auch zu diesem schweren Geschaͤft genug Wahrheitsliebe, genug Scharfsinn, genug Selbstuͤberwindung besitzen, ohne meine Erroͤthung ― die eine unausbleibliche Folge davon seyn wird ― zu scheuen? Wird mein starker Trieb nach Menschenbeifall auch dieses zulassen? Und werde ich mich nicht mit niedergeschlagnen Augen Jhnen nahen, wenn Sie nach Lesung dieses meines Gestaͤndnisses ― dessen Veranlassung nur Sie wissen, und ― nur Sie interessiren kann ― ausrufen werden: ists moͤglich! Aber Sie sind auch Philosoph; Jhnen kann ich mich sicherer anvertrauen als ― dem bloßen Handwerkstheologen (verzeihen Sie mir diesen etwas unschicklichen Ausdruck) der sich nie in das Heiligthum menschlicher Schwaͤche gewagt, noch ihre Triebfedern hat kennen lernen, und der mit kaltem Herzen den Bannstrahl des Gesetzes auf den Ungluͤcklichen loßschleudert ― ohne etwas zu seiner

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/36
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/36>, abgerufen am 23.04.2024.