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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.

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selben vor einer gänzlichen Vernichtung waren mir nicht einleuchtend.

Kurz, meine Sinneswerkzeuge fingen zwar wieder an, ihrer Bestimmung und dem Willen der Seele zu gehorchen; allein meine Schlüsse waren viel schwächer und langsamer, als die, welche während der Krankheit durch gesetzwiedrige Bewegung der Lebensgeister waren verursacht worden.

Jch kam mir vor, wie ein Mann, der unter der Menge seiner durch den Zufall untereinandergeworfenen Schriften an einem bestimmten Orte etwas zu finden glaubt und sich betrogen sieht.

Die Vernunft wählet und verbindet die Jdeen, sie mögen ihr durch die Sinne, oder aus der Phantasie dargeboten werden. Das Bewußtseyn des verschiedenen Ursprungs, mit einem mehr oder weniger kräftigen Bestreben, selbst mangelhafte Jdeen zu berichtigen, scheint der Ursprung oder der Anfang der Vernunft zu seyn.

Nicht leicht wird man einen verwirrten Menschen sehen, ohne diesen Keim der Vernunft, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, und wenn er zu Boden gedruckt wird, so liegt die Schuld im Körper.

Galen erzählt: er selbst habe einst im hitzigen Fieber allerlei aus seinem Bette und Kleidern hervorragende schwarze Splittern und Fasern zu sehen geglaubt, und da er sie wegzunehmen sei bemüht gewesen, hätten zwei gegenwärtige Freunde davon


selben vor einer gaͤnzlichen Vernichtung waren mir nicht einleuchtend.

Kurz, meine Sinneswerkzeuge fingen zwar wieder an, ihrer Bestimmung und dem Willen der Seele zu gehorchen; allein meine Schluͤsse waren viel schwaͤcher und langsamer, als die, welche waͤhrend der Krankheit durch gesetzwiedrige Bewegung der Lebensgeister waren verursacht worden.

Jch kam mir vor, wie ein Mann, der unter der Menge seiner durch den Zufall untereinandergeworfenen Schriften an einem bestimmten Orte etwas zu finden glaubt und sich betrogen sieht.

Die Vernunft waͤhlet und verbindet die Jdeen, sie moͤgen ihr durch die Sinne, oder aus der Phantasie dargeboten werden. Das Bewußtseyn des verschiedenen Ursprungs, mit einem mehr oder weniger kraͤftigen Bestreben, selbst mangelhafte Jdeen zu berichtigen, scheint der Ursprung oder der Anfang der Vernunft zu seyn.

Nicht leicht wird man einen verwirrten Menschen sehen, ohne diesen Keim der Vernunft, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, und wenn er zu Boden gedruckt wird, so liegt die Schuld im Koͤrper.

Galen erzaͤhlt: er selbst habe einst im hitzigen Fieber allerlei aus seinem Bette und Kleidern hervorragende schwarze Splittern und Fasern zu sehen geglaubt, und da er sie wegzunehmen sei bemuͤht gewesen, haͤtten zwei gegenwaͤrtige Freunde davon

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[9/0009] selben vor einer gaͤnzlichen Vernichtung waren mir nicht einleuchtend. Kurz, meine Sinneswerkzeuge fingen zwar wieder an, ihrer Bestimmung und dem Willen der Seele zu gehorchen; allein meine Schluͤsse waren viel schwaͤcher und langsamer, als die, welche waͤhrend der Krankheit durch gesetzwiedrige Bewegung der Lebensgeister waren verursacht worden. Jch kam mir vor, wie ein Mann, der unter der Menge seiner durch den Zufall untereinandergeworfenen Schriften an einem bestimmten Orte etwas zu finden glaubt und sich betrogen sieht. Die Vernunft waͤhlet und verbindet die Jdeen, sie moͤgen ihr durch die Sinne, oder aus der Phantasie dargeboten werden. Das Bewußtseyn des verschiedenen Ursprungs, mit einem mehr oder weniger kraͤftigen Bestreben, selbst mangelhafte Jdeen zu berichtigen, scheint der Ursprung oder der Anfang der Vernunft zu seyn. Nicht leicht wird man einen verwirrten Menschen sehen, ohne diesen Keim der Vernunft, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, und wenn er zu Boden gedruckt wird, so liegt die Schuld im Koͤrper. Galen erzaͤhlt: er selbst habe einst im hitzigen Fieber allerlei aus seinem Bette und Kleidern hervorragende schwarze Splittern und Fasern zu sehen geglaubt, und da er sie wegzunehmen sei bemuͤht gewesen, haͤtten zwei gegenwaͤrtige Freunde davon

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/9>, abgerufen am 28.03.2024.