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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.

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Das Ohr hat bei mir die Vergangenheit immer mehr an die Gegenwart geknüpft, als das Auge. --

So oft ich an einem entfernten Orte war, und über dem Anblick der Häuser, der Thürme, des Steinpflasters alles Vergangne und Entfernte vergaß, und mich nur auf den gegenwärtigen armen Fleck meiner Existenz eingeschränkt fühlte, war es der Klang der Glocken, der mich zurückrief, und mir Vergangenheit und Entfernung wieder lebhaft vor die Seele brachte. --

Woher käme das, als weil die Succession der Jdeen durch den Schall in meiner Seele angeregt und herrschend geworden war? --

Alle die sichtbaren Gegenstände um mich her schienen denn auch eine andre Gestalt anzunehmen -- sie kamen mir in einem andern Lichte vor, da ich sie mit dem Vergangnen und Entfernten zusammenstellte. --

Wäre aber die mit der Vorstellung des Gegenwärtigen gleichzeitig verbundne Vorstellung des Vergangnen und Entfernten nichts als das Resultat von der Zusammenstellung zweier sinnlichen Werkzeuge, wie Auge und Ohr -- so müßte bei dem Mangel oder der Unbrauchbarkeit des einen oder des andren dieser sinnlichen Werkzeuge die vorstellende Kraft gleichsam halbirt, bei dem Blindgebohrnen müßte nichts, als Succession, und bei


Das Ohr hat bei mir die Vergangenheit immer mehr an die Gegenwart geknuͤpft, als das Auge. —

So oft ich an einem entfernten Orte war, und uͤber dem Anblick der Haͤuser, der Thuͤrme, des Steinpflasters alles Vergangne und Entfernte vergaß, und mich nur auf den gegenwaͤrtigen armen Fleck meiner Existenz eingeschraͤnkt fuͤhlte, war es der Klang der Glocken, der mich zuruͤckrief, und mir Vergangenheit und Entfernung wieder lebhaft vor die Seele brachte. —

Woher kaͤme das, als weil die Succession der Jdeen durch den Schall in meiner Seele angeregt und herrschend geworden war? —

Alle die sichtbaren Gegenstaͤnde um mich her schienen denn auch eine andre Gestalt anzunehmen — sie kamen mir in einem andern Lichte vor, da ich sie mit dem Vergangnen und Entfernten zusammenstellte. —

Waͤre aber die mit der Vorstellung des Gegenwaͤrtigen gleichzeitig verbundne Vorstellung des Vergangnen und Entfernten nichts als das Resultat von der Zusammenstellung zweier sinnlichen Werkzeuge, wie Auge und Ohr — so muͤßte bei dem Mangel oder der Unbrauchbarkeit des einen oder des andren dieser sinnlichen Werkzeuge die vorstellende Kraft gleichsam halbirt, bei dem Blindgebohrnen muͤßte nichts, als Succession, und bei

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[5/0005] Das Ohr hat bei mir die Vergangenheit immer mehr an die Gegenwart geknuͤpft, als das Auge. — So oft ich an einem entfernten Orte war, und uͤber dem Anblick der Haͤuser, der Thuͤrme, des Steinpflasters alles Vergangne und Entfernte vergaß, und mich nur auf den gegenwaͤrtigen armen Fleck meiner Existenz eingeschraͤnkt fuͤhlte, war es der Klang der Glocken, der mich zuruͤckrief, und mir Vergangenheit und Entfernung wieder lebhaft vor die Seele brachte. — Woher kaͤme das, als weil die Succession der Jdeen durch den Schall in meiner Seele angeregt und herrschend geworden war? — Alle die sichtbaren Gegenstaͤnde um mich her schienen denn auch eine andre Gestalt anzunehmen — sie kamen mir in einem andern Lichte vor, da ich sie mit dem Vergangnen und Entfernten zusammenstellte. — Waͤre aber die mit der Vorstellung des Gegenwaͤrtigen gleichzeitig verbundne Vorstellung des Vergangnen und Entfernten nichts als das Resultat von der Zusammenstellung zweier sinnlichen Werkzeuge, wie Auge und Ohr — so muͤßte bei dem Mangel oder der Unbrauchbarkeit des einen oder des andren dieser sinnlichen Werkzeuge die vorstellende Kraft gleichsam halbirt, bei dem Blindgebohrnen muͤßte nichts, als Succession, und bei

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/5>, abgerufen am 23.04.2024.