Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite


Allmosen bat; geschwind lief ich zur Mutter und sagte ihr's; sie kam und sahe, daß es eine Jüdin war; wie, eine Jüdin? sagte ich zu ihr, fordern und nehmen denn die Juden auch was von Christen an? ich hörte ja immer, daß alles koscher seyn müsse, was sie essen und trinken. Gutes Kind, war die Antwort der Mutter, siehst Du jetzt, was die Noth vermag? ohne diese würden sich die Juden lieber das Leben nehmen lassen, als etwas, das nicht koscher ist, essen. Nun sind sie so froh, wenn ein Christ sich ihrer erbarmt, und ihnen ein Stückchen Brod oder sonst was reicht; Du wirst sehen, was diese Frau für Freude hat, wenn ich ihr was gebe. Jetzt ging sie hinein, was zu hohlen; die Jüdin hatte ein unmündiges Kind auf den Armen, dessen erbärmliches Winseln jedes Mitleiden erweckte; die deutlichen Spuren der Dürftigkeit erblickte man ausserdem schon auf seinem und seiner Mutter Gesichtszügen. Meine Mutter kam mit einem Löffel voll Mehl, einem Tuch voll Grundbirnen und einem Stück Brod zurücke; bei dem Anblicke dieser Gaben hüpfte vor Freuden ganz ersichtlich das Herz der guten Jüdin; sie war stumm, sahe bald mit einem flüchtigen, aber fühlenden Auge auf meine Mutter, bald auf das Allmosen, und bald auf ihren entkräfteten Säugling; nahm's mit pochendem Herzen, mit zitternder Hand, mit sanften stillen Thränen und lächelndem Munde zu sich, was man ihr darbot; durchdrungen von inni-


Allmosen bat; geschwind lief ich zur Mutter und sagte ihr's; sie kam und sahe, daß es eine Juͤdin war; wie, eine Juͤdin? sagte ich zu ihr, fordern und nehmen denn die Juden auch was von Christen an? ich hoͤrte ja immer, daß alles koscher seyn muͤsse, was sie essen und trinken. Gutes Kind, war die Antwort der Mutter, siehst Du jetzt, was die Noth vermag? ohne diese wuͤrden sich die Juden lieber das Leben nehmen lassen, als etwas, das nicht koscher ist, essen. Nun sind sie so froh, wenn ein Christ sich ihrer erbarmt, und ihnen ein Stuͤckchen Brod oder sonst was reicht; Du wirst sehen, was diese Frau fuͤr Freude hat, wenn ich ihr was gebe. Jetzt ging sie hinein, was zu hohlen; die Juͤdin hatte ein unmuͤndiges Kind auf den Armen, dessen erbaͤrmliches Winseln jedes Mitleiden erweckte; die deutlichen Spuren der Duͤrftigkeit erblickte man ausserdem schon auf seinem und seiner Mutter Gesichtszuͤgen. Meine Mutter kam mit einem Loͤffel voll Mehl, einem Tuch voll Grundbirnen und einem Stuͤck Brod zuruͤcke; bei dem Anblicke dieser Gaben huͤpfte vor Freuden ganz ersichtlich das Herz der guten Juͤdin; sie war stumm, sahe bald mit einem fluͤchtigen, aber fuͤhlenden Auge auf meine Mutter, bald auf das Allmosen, und bald auf ihren entkraͤfteten Saͤugling; nahm's mit pochendem Herzen, mit zitternder Hand, mit sanften stillen Thraͤnen und laͤchelndem Munde zu sich, was man ihr darbot; durchdrungen von inni-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0071" n="71"/><lb/>
Allmosen bat;                   geschwind lief ich zur Mutter und sagte ihr's; sie kam und sahe, daß es eine Ju&#x0364;din                   war; wie, eine Ju&#x0364;din? sagte ich zu ihr, fordern und nehmen denn die Juden auch was                   von Christen an? ich ho&#x0364;rte ja immer, daß alles koscher seyn mu&#x0364;sse, was sie essen                   und trinken. Gutes Kind, war die Antwort der Mutter, siehst Du jetzt, was die Noth                   vermag? ohne diese wu&#x0364;rden sich die Juden lieber das Leben nehmen lassen, als                   etwas, das nicht koscher ist, essen. Nun sind sie so froh, wenn ein Christ sich                   ihrer erbarmt, und ihnen ein Stu&#x0364;ckchen Brod oder sonst was reicht; Du wirst sehen,                   was diese Frau fu&#x0364;r Freude hat, wenn ich ihr was gebe. Jetzt ging sie hinein, was                   zu hohlen; die Ju&#x0364;din hatte ein unmu&#x0364;ndiges Kind auf den Armen, dessen erba&#x0364;rmliches                   Winseln jedes Mitleiden erweckte; die deutlichen Spuren der Du&#x0364;rftigkeit erblickte                   man ausserdem schon auf seinem und seiner Mutter Gesichtszu&#x0364;gen. Meine Mutter kam                   mit einem Lo&#x0364;ffel voll Mehl, einem Tuch voll Grundbirnen und einem Stu&#x0364;ck Brod                   zuru&#x0364;cke; bei dem Anblicke dieser Gaben hu&#x0364;pfte vor Freuden ganz ersichtlich das                   Herz der guten Ju&#x0364;din; sie war stumm, sahe bald mit einem flu&#x0364;chtigen, aber                   fu&#x0364;hlenden Auge auf meine Mutter, bald auf das Allmosen, und bald auf ihren                   entkra&#x0364;fteten Sa&#x0364;ugling; nahm's mit pochendem Herzen, mit zitternder Hand, mit                   sanften stillen Thra&#x0364;nen und la&#x0364;chelndem Munde zu sich, was man ihr darbot;                   durchdrungen von inni-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[71/0071] Allmosen bat; geschwind lief ich zur Mutter und sagte ihr's; sie kam und sahe, daß es eine Juͤdin war; wie, eine Juͤdin? sagte ich zu ihr, fordern und nehmen denn die Juden auch was von Christen an? ich hoͤrte ja immer, daß alles koscher seyn muͤsse, was sie essen und trinken. Gutes Kind, war die Antwort der Mutter, siehst Du jetzt, was die Noth vermag? ohne diese wuͤrden sich die Juden lieber das Leben nehmen lassen, als etwas, das nicht koscher ist, essen. Nun sind sie so froh, wenn ein Christ sich ihrer erbarmt, und ihnen ein Stuͤckchen Brod oder sonst was reicht; Du wirst sehen, was diese Frau fuͤr Freude hat, wenn ich ihr was gebe. Jetzt ging sie hinein, was zu hohlen; die Juͤdin hatte ein unmuͤndiges Kind auf den Armen, dessen erbaͤrmliches Winseln jedes Mitleiden erweckte; die deutlichen Spuren der Duͤrftigkeit erblickte man ausserdem schon auf seinem und seiner Mutter Gesichtszuͤgen. Meine Mutter kam mit einem Loͤffel voll Mehl, einem Tuch voll Grundbirnen und einem Stuͤck Brod zuruͤcke; bei dem Anblicke dieser Gaben huͤpfte vor Freuden ganz ersichtlich das Herz der guten Juͤdin; sie war stumm, sahe bald mit einem fluͤchtigen, aber fuͤhlenden Auge auf meine Mutter, bald auf das Allmosen, und bald auf ihren entkraͤfteten Saͤugling; nahm's mit pochendem Herzen, mit zitternder Hand, mit sanften stillen Thraͤnen und laͤchelndem Munde zu sich, was man ihr darbot; durchdrungen von inni-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/71
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/71>, abgerufen am 28.04.2024.