Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.

Bild:
<< vorherige Seite

Jch habe dieß arme Geschöpf, welches schon nichts als Haut und Knochen war, mehr als hundertmal, nackend auf dem Stroh liegen sehen, in einer Kammer, die nichts als ein eisernes Gitter hatte, wodurch das Licht hereinfiel, und ohne Fenster war, weil sie die Fensterscheiben, so wie alles Zerbrechliche, sogleich zerbrach. --

Eines Tages besuche ich das Haus, und bemerke an der Person, die mich hereinläßt, eine Physiognomie, die mir zwar bekannt vorkam, aber deren ich mich doch nicht deutlich erinnern konnte.

Es war ein wohlgekleidetes, ehrbares, starkes und gesundes Mädchen, welches mich auch zu kennen schien. Jndem ich das Haus untersuche, frage ich den Herrn, wo er seine neue Magd, die ich mich anderwärts gesehen zu haben erinnerte, herbekommen habe.

Jhr mögt sie freilich wohl oft gesehen haben, mein Herr, gab er zur Antwort -- und ließ mich weiter nachsuchen, bis er mich endlich der Unglücklichen auf den Stroh erinnerte -- "Es sind nun drei Monathe, sagte er, daß sie völlig wieder hergestellt ist. -- Etwas Niedergeschlagenheit, die ihr noch übrig geblieben ist, ausgenommen, hat sie wieder ihre gesunde Vernunft, so gut, als einer sie haben kann. -- Jch wollte ohnedem von ihr Bericht abstatten, weil sie auf die Probe gestellt werden kann, um sie wieder loszulassen."



Jch habe dieß arme Geschoͤpf, welches schon nichts als Haut und Knochen war, mehr als hundertmal, nackend auf dem Stroh liegen sehen, in einer Kammer, die nichts als ein eisernes Gitter hatte, wodurch das Licht hereinfiel, und ohne Fenster war, weil sie die Fensterscheiben, so wie alles Zerbrechliche, sogleich zerbrach. —

Eines Tages besuche ich das Haus, und bemerke an der Person, die mich hereinlaͤßt, eine Physiognomie, die mir zwar bekannt vorkam, aber deren ich mich doch nicht deutlich erinnern konnte.

Es war ein wohlgekleidetes, ehrbares, starkes und gesundes Maͤdchen, welches mich auch zu kennen schien. Jndem ich das Haus untersuche, frage ich den Herrn, wo er seine neue Magd, die ich mich anderwaͤrts gesehen zu haben erinnerte, herbekommen habe.

Jhr moͤgt sie freilich wohl oft gesehen haben, mein Herr, gab er zur Antwort — und ließ mich weiter nachsuchen, bis er mich endlich der Ungluͤcklichen auf den Stroh erinnerte — »Es sind nun drei Monathe, sagte er, daß sie voͤllig wieder hergestellt ist. — Etwas Niedergeschlagenheit, die ihr noch uͤbrig geblieben ist, ausgenommen, hat sie wieder ihre gesunde Vernunft, so gut, als einer sie haben kann. — Jch wollte ohnedem von ihr Bericht abstatten, weil sie auf die Probe gestellt werden kann, um sie wieder loszulassen.«


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0092" n="92"/><lb/>
              <p>Jch habe dieß arme Gescho&#x0364;pf, welches schon nichts als Haut und Knochen war, mehr                   als hundertmal, nackend auf dem Stroh liegen sehen, in einer Kammer, die nichts                   als ein eisernes Gitter hatte, wodurch das Licht hereinfiel, und ohne Fenster war,                   weil sie die Fensterscheiben, so wie alles Zerbrechliche, sogleich zerbrach. &#x2014; </p>
              <p>Eines Tages besuche ich das Haus, und bemerke an der Person, die mich hereinla&#x0364;ßt,                   eine Physiognomie, die mir zwar bekannt vorkam, aber deren ich mich doch nicht                   deutlich erinnern konnte. </p>
              <p>Es war ein wohlgekleidetes, ehrbares, starkes und gesundes Ma&#x0364;dchen, welches mich                   auch zu kennen schien. Jndem ich das Haus untersuche, frage ich den Herrn, wo er                   seine neue Magd, die ich mich anderwa&#x0364;rts gesehen zu haben erinnerte, herbekommen                   habe. </p>
              <p>Jhr mo&#x0364;gt sie freilich wohl oft gesehen haben, mein Herr, gab er zur Antwort &#x2014; und                   ließ mich weiter nachsuchen, bis er mich endlich der Unglu&#x0364;cklichen auf den Stroh                   erinnerte &#x2014; »Es sind nun drei Monathe, sagte er, daß sie vo&#x0364;llig wieder hergestellt                   ist. &#x2014; Etwas Niedergeschlagenheit, die ihr noch u&#x0364;brig geblieben ist, ausgenommen,                   hat sie wieder ihre gesunde Vernunft, so gut, als einer sie haben kann. &#x2014; Jch                   wollte ohnedem von ihr Bericht abstatten, weil sie auf die Probe gestellt werden                   kann, um sie wieder loszulassen.« </p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0092] Jch habe dieß arme Geschoͤpf, welches schon nichts als Haut und Knochen war, mehr als hundertmal, nackend auf dem Stroh liegen sehen, in einer Kammer, die nichts als ein eisernes Gitter hatte, wodurch das Licht hereinfiel, und ohne Fenster war, weil sie die Fensterscheiben, so wie alles Zerbrechliche, sogleich zerbrach. — Eines Tages besuche ich das Haus, und bemerke an der Person, die mich hereinlaͤßt, eine Physiognomie, die mir zwar bekannt vorkam, aber deren ich mich doch nicht deutlich erinnern konnte. Es war ein wohlgekleidetes, ehrbares, starkes und gesundes Maͤdchen, welches mich auch zu kennen schien. Jndem ich das Haus untersuche, frage ich den Herrn, wo er seine neue Magd, die ich mich anderwaͤrts gesehen zu haben erinnerte, herbekommen habe. Jhr moͤgt sie freilich wohl oft gesehen haben, mein Herr, gab er zur Antwort — und ließ mich weiter nachsuchen, bis er mich endlich der Ungluͤcklichen auf den Stroh erinnerte — »Es sind nun drei Monathe, sagte er, daß sie voͤllig wieder hergestellt ist. — Etwas Niedergeschlagenheit, die ihr noch uͤbrig geblieben ist, ausgenommen, hat sie wieder ihre gesunde Vernunft, so gut, als einer sie haben kann. — Jch wollte ohnedem von ihr Bericht abstatten, weil sie auf die Probe gestellt werden kann, um sie wieder loszulassen.«

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/92
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/92>, abgerufen am 27.04.2024.