Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 3. Berlin, 1789.

Bild:
<< vorherige Seite


Weg gegangen, sondern habe auf tausend Umwegen das gesucht, was mir vielleicht sehr nahe lag
-- sind doch wahr -- aber der Vorsatz, wahr zu seyn, der in der Morgenstunde, in dem Garten, unter freiem Himmel, feierlich gefaßt wird, hebt alles wieder auf, und macht, daß es leere Worte sind.

Geheime Tagebücher können über dieses noch in tiefes Dunkel gehüllte Phänomen der Selbsttäuschung die besten Aufschlüsse geben.

Sie sind laurende Verräther, redende Zeugen, aber auch lockende Verführer. --

Der Mensch will sich gern in den Buchstaben spiegeln, die kein anderes Auge erblicket, und will doch auch da nicht häßlich vor sich selbst erscheinen. --

Er macht sich die bittersten Vorwürfe, und denkt doch darauf, die Worte wohl zu setzen, wodurch er sich Vorwürfe macht. --

Das Tagebuch soll ein unpartheiischer Zeuge seiner Handlungen seyn, damit es ihm in der Zukunft, die vielleicht noch seiner wartet, von jedem merkwürdigen Tage seines Lebens ein getreues Bild darstelle.

Er sucht, durch das Tagebuch, seinem Leben eine Wichtigkeit zu geben, die es sonst nicht hat -- die Selbstbeobachtung ist nicht sein Hauptzweck. --

Er schreibt schöne Gebete an Gott, in welche er seine Vorsätze kleidet, um sie dadurch festzuhal-


Weg gegangen, sondern habe auf tausend Umwegen das gesucht, was mir vielleicht sehr nahe lag
— sind doch wahr — aber der Vorsatz, wahr zu seyn, der in der Morgenstunde, in dem Garten, unter freiem Himmel, feierlich gefaßt wird, hebt alles wieder auf, und macht, daß es leere Worte sind.

Geheime Tagebuͤcher koͤnnen uͤber dieses noch in tiefes Dunkel gehuͤllte Phaͤnomen der Selbsttaͤuschung die besten Aufschluͤsse geben.

Sie sind laurende Verraͤther, redende Zeugen, aber auch lockende Verfuͤhrer. —

Der Mensch will sich gern in den Buchstaben spiegeln, die kein anderes Auge erblicket, und will doch auch da nicht haͤßlich vor sich selbst erscheinen. —

Er macht sich die bittersten Vorwuͤrfe, und denkt doch darauf, die Worte wohl zu setzen, wodurch er sich Vorwuͤrfe macht. —

Das Tagebuch soll ein unpartheiischer Zeuge seiner Handlungen seyn, damit es ihm in der Zukunft, die vielleicht noch seiner wartet, von jedem merkwuͤrdigen Tage seines Lebens ein getreues Bild darstelle.

Er sucht, durch das Tagebuch, seinem Leben eine Wichtigkeit zu geben, die es sonst nicht hat — die Selbstbeobachtung ist nicht sein Hauptzweck. —

Er schreibt schoͤne Gebete an Gott, in welche er seine Vorsaͤtze kleidet, um sie dadurch festzuhal-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><hi rendition="#b"><pb facs="#f0046" n="46"/><lb/>
Weg gegangen, sondern habe auf                             tausend Umwegen das gesucht, was mir vielleicht sehr nahe lag</hi> &#x2014;                         sind doch wahr &#x2014; aber der <hi rendition="#b">Vorsatz, wahr zu seyn,</hi> der in der <hi rendition="#b">Morgenstunde</hi>, in dem <hi rendition="#b">Garten</hi>, unter <hi rendition="#b">freiem Himmel, feierlich</hi> gefaßt wird, hebt alles wieder auf, und macht, daß es leere Worte sind.</p>
            <p>Geheime Tagebu&#x0364;cher ko&#x0364;nnen u&#x0364;ber dieses noch in tiefes Dunkel gehu&#x0364;llte Pha&#x0364;nomen                         der Selbstta&#x0364;uschung die besten Aufschlu&#x0364;sse geben.</p>
            <p>Sie sind laurende Verra&#x0364;ther, redende Zeugen, aber auch lockende Verfu&#x0364;hrer.                         &#x2014;</p>
            <p>Der Mensch will sich gern in den Buchstaben spiegeln, die kein anderes Auge                         erblicket, und will doch auch da nicht ha&#x0364;ßlich vor sich selbst erscheinen.                         &#x2014;</p>
            <p>Er macht sich die bittersten Vorwu&#x0364;rfe, und denkt doch darauf, die Worte wohl                         zu setzen, wodurch er sich Vorwu&#x0364;rfe macht. &#x2014;</p>
            <p>Das Tagebuch soll ein unpartheiischer Zeuge seiner Handlungen seyn, damit es                         ihm in der Zukunft, die vielleicht noch seiner wartet, von jedem <hi rendition="#b">merkwu&#x0364;rdigen</hi> Tage seines Lebens ein getreues Bild                         darstelle.</p>
            <p>Er sucht, durch das Tagebuch, seinem Leben eine <hi rendition="#b">Wichtigkeit</hi> zu geben, die es sonst nicht hat &#x2014; die                         Selbstbeobachtung ist nicht sein Hauptzweck. &#x2014;</p>
            <p>Er schreibt scho&#x0364;ne Gebete an Gott, in welche er seine Vorsa&#x0364;tze kleidet, um                         sie dadurch festzuhal-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0046] Weg gegangen, sondern habe auf tausend Umwegen das gesucht, was mir vielleicht sehr nahe lag — sind doch wahr — aber der Vorsatz, wahr zu seyn, der in der Morgenstunde, in dem Garten, unter freiem Himmel, feierlich gefaßt wird, hebt alles wieder auf, und macht, daß es leere Worte sind. Geheime Tagebuͤcher koͤnnen uͤber dieses noch in tiefes Dunkel gehuͤllte Phaͤnomen der Selbsttaͤuschung die besten Aufschluͤsse geben. Sie sind laurende Verraͤther, redende Zeugen, aber auch lockende Verfuͤhrer. — Der Mensch will sich gern in den Buchstaben spiegeln, die kein anderes Auge erblicket, und will doch auch da nicht haͤßlich vor sich selbst erscheinen. — Er macht sich die bittersten Vorwuͤrfe, und denkt doch darauf, die Worte wohl zu setzen, wodurch er sich Vorwuͤrfe macht. — Das Tagebuch soll ein unpartheiischer Zeuge seiner Handlungen seyn, damit es ihm in der Zukunft, die vielleicht noch seiner wartet, von jedem merkwuͤrdigen Tage seines Lebens ein getreues Bild darstelle. Er sucht, durch das Tagebuch, seinem Leben eine Wichtigkeit zu geben, die es sonst nicht hat — die Selbstbeobachtung ist nicht sein Hauptzweck. — Er schreibt schoͤne Gebete an Gott, in welche er seine Vorsaͤtze kleidet, um sie dadurch festzuhal-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0703_1789
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0703_1789/46
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 7, St. 3. Berlin, 1789, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0703_1789/46>, abgerufen am 24.04.2024.