Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

Räthsel auf: was für ein Thier am Morgen auf
vier, am Tage auf zwei, am Abend auf drei Füßen
gehe? Wer dieß Räthsel nicht errieth, den stürzte
sie von dem Felsen herab.

Oedipus kam und deutete das Räthsel: der
Mensch als Kind am frühesten Morgen seines Le-
bens, wälze sich auf Händen und Füßen fort;
am langen Tage des Lebens, wo noch die Kraft
in seinen Gliedern wohnt, wandle er aufrecht auf
zwei Füßen; am Abend, wenn das Alter ihn
überschleicht, gehe er gebückt am Stabe, und setze
auf die Weise den dritten Fuß sich an.

Nun tödtete Oedipus die Sphinx, oder, nach
einer andern bedeutendern Sage, stürzte sie sich
vom Felsen herab, sobald er das Räthsel errathen
hatte. --

Da nun Lajus todt war, ohne daß man sei-
nen Mörder wußte; so hatte man demjenigen,
der das Räthsel der Sphinx auflösen, und von
diesem Ungeheuer das Land befreien würde, ver-
heißen, daß die Königin sich mit ihm vermählen,
und ihm die Herrschaft über Theben zum Braut-
schatz bringen solle.

Dem Oedipus ward nun dieß von vielen Tau-
senden beneidete anscheinende Glück zu Theil, wo-
mit der schreckliche Orakelspruch ganz und ohne
Schonung in Erfüllung ging; indem er sich mit
Jokasten, der Königin, vermählte, nahm er

Z

Raͤthſel auf: was fuͤr ein Thier am Morgen auf
vier, am Tage auf zwei, am Abend auf drei Fuͤßen
gehe? Wer dieß Raͤthſel nicht errieth, den ſtuͤrzte
ſie von dem Felſen herab.

Oedipus kam und deutete das Raͤthſel: der
Menſch als Kind am fruͤheſten Morgen ſeines Le-
bens, waͤlze ſich auf Haͤnden und Fuͤßen fort;
am langen Tage des Lebens, wo noch die Kraft
in ſeinen Gliedern wohnt, wandle er aufrecht auf
zwei Fuͤßen; am Abend, wenn das Alter ihn
uͤberſchleicht, gehe er gebuͤckt am Stabe, und ſetze
auf die Weiſe den dritten Fuß ſich an.

Nun toͤdtete Oedipus die Sphinx, oder, nach
einer andern bedeutendern Sage, ſtuͤrzte ſie ſich
vom Felſen herab, ſobald er das Raͤthſel errathen
hatte. —

Da nun Lajus todt war, ohne daß man ſei-
nen Moͤrder wußte; ſo hatte man demjenigen,
der das Raͤthſel der Sphinx aufloͤſen, und von
dieſem Ungeheuer das Land befreien wuͤrde, ver-
heißen, daß die Koͤnigin ſich mit ihm vermaͤhlen,
und ihm die Herrſchaft uͤber Theben zum Braut-
ſchatz bringen ſolle.

Dem Oedipus ward nun dieß von vielen Tau-
ſenden beneidete anſcheinende Gluͤck zu Theil, wo-
mit der ſchreckliche Orakelſpruch ganz und ohne
Schonung in Erfuͤllung ging; indem er ſich mit
Jokaſten, der Koͤnigin, vermaͤhlte, nahm er

Z
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0423" n="353"/>
Ra&#x0364;th&#x017F;el auf: was fu&#x0364;r ein Thier am Morgen auf<lb/>
vier, am Tage auf zwei, am Abend auf drei Fu&#x0364;ßen<lb/>
gehe? Wer dieß Ra&#x0364;th&#x017F;el nicht errieth, den &#x017F;tu&#x0364;rzte<lb/>
&#x017F;ie von dem Fel&#x017F;en herab.</p><lb/>
            <p>Oedipus kam und deutete das Ra&#x0364;th&#x017F;el: der<lb/>
Men&#x017F;ch als Kind am fru&#x0364;he&#x017F;ten Morgen &#x017F;eines Le-<lb/>
bens, wa&#x0364;lze &#x017F;ich auf <hi rendition="#fr">Ha&#x0364;nden und Fu&#x0364;ßen</hi> fort;<lb/>
am langen Tage des Lebens, wo noch die Kraft<lb/>
in &#x017F;einen Gliedern wohnt, wandle er aufrecht auf<lb/><hi rendition="#fr">zwei Fu&#x0364;ßen;</hi> am Abend, wenn das Alter ihn<lb/>
u&#x0364;ber&#x017F;chleicht, gehe er gebu&#x0364;ckt am Stabe, und &#x017F;etze<lb/>
auf die Wei&#x017F;e den <hi rendition="#fr">dritten Fuß</hi> &#x017F;ich an.</p><lb/>
            <p>Nun to&#x0364;dtete Oedipus die Sphinx, oder, nach<lb/>
einer andern bedeutendern Sage, &#x017F;tu&#x0364;rzte &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
vom Fel&#x017F;en herab, &#x017F;obald er das Ra&#x0364;th&#x017F;el errathen<lb/>
hatte. &#x2014;</p><lb/>
            <p>Da nun Lajus todt war, ohne daß man &#x017F;ei-<lb/>
nen Mo&#x0364;rder wußte; &#x017F;o hatte man demjenigen,<lb/>
der das Ra&#x0364;th&#x017F;el der Sphinx auflo&#x0364;&#x017F;en, und von<lb/>
die&#x017F;em Ungeheuer das Land befreien wu&#x0364;rde, ver-<lb/>
heißen, daß die Ko&#x0364;nigin &#x017F;ich mit ihm verma&#x0364;hlen,<lb/>
und ihm die Herr&#x017F;chaft u&#x0364;ber Theben zum Braut-<lb/>
&#x017F;chatz bringen &#x017F;olle.</p><lb/>
            <p>Dem Oedipus ward nun dieß von vielen Tau-<lb/>
&#x017F;enden beneidete an&#x017F;cheinende Glu&#x0364;ck zu Theil, wo-<lb/>
mit der &#x017F;chreckliche Orakel&#x017F;pruch ganz und ohne<lb/>
Schonung in Erfu&#x0364;llung ging; indem er &#x017F;ich mit<lb/><hi rendition="#fr">Joka&#x017F;ten,</hi> der Ko&#x0364;nigin, verma&#x0364;hlte, <hi rendition="#fr">nahm er</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Z</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[353/0423] Raͤthſel auf: was fuͤr ein Thier am Morgen auf vier, am Tage auf zwei, am Abend auf drei Fuͤßen gehe? Wer dieß Raͤthſel nicht errieth, den ſtuͤrzte ſie von dem Felſen herab. Oedipus kam und deutete das Raͤthſel: der Menſch als Kind am fruͤheſten Morgen ſeines Le- bens, waͤlze ſich auf Haͤnden und Fuͤßen fort; am langen Tage des Lebens, wo noch die Kraft in ſeinen Gliedern wohnt, wandle er aufrecht auf zwei Fuͤßen; am Abend, wenn das Alter ihn uͤberſchleicht, gehe er gebuͤckt am Stabe, und ſetze auf die Weiſe den dritten Fuß ſich an. Nun toͤdtete Oedipus die Sphinx, oder, nach einer andern bedeutendern Sage, ſtuͤrzte ſie ſich vom Felſen herab, ſobald er das Raͤthſel errathen hatte. — Da nun Lajus todt war, ohne daß man ſei- nen Moͤrder wußte; ſo hatte man demjenigen, der das Raͤthſel der Sphinx aufloͤſen, und von dieſem Ungeheuer das Land befreien wuͤrde, ver- heißen, daß die Koͤnigin ſich mit ihm vermaͤhlen, und ihm die Herrſchaft uͤber Theben zum Braut- ſchatz bringen ſolle. Dem Oedipus ward nun dieß von vielen Tau- ſenden beneidete anſcheinende Gluͤck zu Theil, wo- mit der ſchreckliche Orakelſpruch ganz und ohne Schonung in Erfuͤllung ging; indem er ſich mit Jokaſten, der Koͤnigin, vermaͤhlte, nahm er Z

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/423
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Berlin, 1791, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_goetterlehre_1791/423>, abgerufen am 01.05.2024.