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Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

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Hat es Gott gefallen, sagte ich, sich den Men-
schen durch Jesum außerordentlich zu offenbahren, so
muß er entweder die Absicht gehabt haben, die natürliche
Religion aus dem Verfall, in den sie gerahten war,
wieder herzustellen, und den Menschen die Wahrheiten
derselben gesammlet und mit höchster Autorität vor Au-
gen zu stellen, die in tausend bloß menschlichen Schriften
zerstreut waren; oder sein Zweck war dieser, ihnen andere
der Vernunft unbekannte Lehren, deren Erkenntniß ihnen
zu ihrem Heile nöthig war, zu eröffnen: oder er wollte
auch beydes zugleich.

Die erste Absicht war für die Menschen sehr
wohlthätig und Gottes würdig. Die natürliche Erkennt-
niß Gottes hatten die Menschen, das jüdische Volk und
allenfalls einige heidnische Philosophen ausgenommen,
fast ganz verlohren, und das wenige, was davon übrig
blieben war, war doch dem gemeinen Mann, der immer
den größten Theil des menschlichen Geschlechts aus-
macht, unbekannt. Diese verlohrnen und gleichwohl
so nöthigen Kenntnisse wieder herzustellen, zu sammlen
und nach der Fassung des großen Haufens bekannt zu
machen, das war also eine würdige Absicht der göttlichen
Offenbahrung. Aber sie war nicht die einzige. Denn
hätte Gott durch Jesum bloß die natürliche Religion leh-
ren wollen, so scheinen die Veranstaltungen, die er ge-
macht hat, ihm bey dem Menschen Glauben zu verschaf-
fen, zu groß gewesen zu seyn. Jesus predigte in diesem
Falle allein solche Wahrheiten, die die allgemeine Men-
schenvernunft, so bald sie sie nur genau ansah, begreiflich
und wahr finden mußte. Wozu wäre es nöthig gewesen
die Lehre Jesu durch so viele Wunder, durch seine Auf-
erstehung, durch die Ausgießung des heiligen Geistes
über die Apostel, zu beweisen?

Gott


Hat es Gott gefallen, ſagte ich, ſich den Men-
ſchen durch Jeſum außerordentlich zu offenbahren, ſo
muß er entweder die Abſicht gehabt haben, die natuͤrliche
Religion aus dem Verfall, in den ſie gerahten war,
wieder herzuſtellen, und den Menſchen die Wahrheiten
derſelben geſammlet und mit hoͤchſter Autoritaͤt vor Au-
gen zu ſtellen, die in tauſend bloß menſchlichen Schriften
zerſtreut waren; oder ſein Zweck war dieſer, ihnen andere
der Vernunft unbekannte Lehren, deren Erkenntniß ihnen
zu ihrem Heile noͤthig war, zu eroͤffnen: oder er wollte
auch beydes zugleich.

Die erſte Abſicht war fuͤr die Menſchen ſehr
wohlthaͤtig und Gottes wuͤrdig. Die natuͤrliche Erkennt-
niß Gottes hatten die Menſchen, das juͤdiſche Volk und
allenfalls einige heidniſche Philoſophen ausgenommen,
faſt ganz verlohren, und das wenige, was davon uͤbrig
blieben war, war doch dem gemeinen Mann, der immer
den groͤßten Theil des menſchlichen Geſchlechts aus-
macht, unbekannt. Dieſe verlohrnen und gleichwohl
ſo noͤthigen Kenntniſſe wieder herzuſtellen, zu ſammlen
und nach der Faſſung des großen Haufens bekannt zu
machen, das war alſo eine wuͤrdige Abſicht der goͤttlichen
Offenbahrung. Aber ſie war nicht die einzige. Denn
haͤtte Gott durch Jeſum bloß die natuͤrliche Religion leh-
ren wollen, ſo ſcheinen die Veranſtaltungen, die er ge-
macht hat, ihm bey dem Menſchen Glauben zu verſchaf-
fen, zu groß geweſen zu ſeyn. Jeſus predigte in dieſem
Falle allein ſolche Wahrheiten, die die allgemeine Men-
ſchenvernunft, ſo bald ſie ſie nur genau anſah, begreiflich
und wahr finden mußte. Wozu waͤre es noͤthig geweſen
die Lehre Jeſu durch ſo viele Wunder, durch ſeine Auf-
erſtehung, durch die Ausgießung des heiligen Geiſtes
uͤber die Apoſtel, zu beweiſen?

Gott
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[152/0164] Hat es Gott gefallen, ſagte ich, ſich den Men- ſchen durch Jeſum außerordentlich zu offenbahren, ſo muß er entweder die Abſicht gehabt haben, die natuͤrliche Religion aus dem Verfall, in den ſie gerahten war, wieder herzuſtellen, und den Menſchen die Wahrheiten derſelben geſammlet und mit hoͤchſter Autoritaͤt vor Au- gen zu ſtellen, die in tauſend bloß menſchlichen Schriften zerſtreut waren; oder ſein Zweck war dieſer, ihnen andere der Vernunft unbekannte Lehren, deren Erkenntniß ihnen zu ihrem Heile noͤthig war, zu eroͤffnen: oder er wollte auch beydes zugleich. Die erſte Abſicht war fuͤr die Menſchen ſehr wohlthaͤtig und Gottes wuͤrdig. Die natuͤrliche Erkennt- niß Gottes hatten die Menſchen, das juͤdiſche Volk und allenfalls einige heidniſche Philoſophen ausgenommen, faſt ganz verlohren, und das wenige, was davon uͤbrig blieben war, war doch dem gemeinen Mann, der immer den groͤßten Theil des menſchlichen Geſchlechts aus- macht, unbekannt. Dieſe verlohrnen und gleichwohl ſo noͤthigen Kenntniſſe wieder herzuſtellen, zu ſammlen und nach der Faſſung des großen Haufens bekannt zu machen, das war alſo eine wuͤrdige Abſicht der goͤttlichen Offenbahrung. Aber ſie war nicht die einzige. Denn haͤtte Gott durch Jeſum bloß die natuͤrliche Religion leh- ren wollen, ſo ſcheinen die Veranſtaltungen, die er ge- macht hat, ihm bey dem Menſchen Glauben zu verſchaf- fen, zu groß geweſen zu ſeyn. Jeſus predigte in dieſem Falle allein ſolche Wahrheiten, die die allgemeine Men- ſchenvernunft, ſo bald ſie ſie nur genau anſah, begreiflich und wahr finden mußte. Wozu waͤre es noͤthig geweſen die Lehre Jeſu durch ſo viele Wunder, durch ſeine Auf- erſtehung, durch die Ausgießung des heiligen Geiſtes uͤber die Apoſtel, zu beweiſen? Gott

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Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/164>, abgerufen am 28.03.2024.