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Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772.

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Leiden und Tod bey ihm möglich, nun konnte das, was
er that und litt, uns gleichsam zugerechnet werden, als
seinen Blutsfreunden, seinen Verwandten. Ebr. 2, 14.
Er erfuhr nun auch selbst, was der Mensch ist, von wel-
chen Schwachheiten er zum Abfall von Gott versucht
wird: er kann also auch um so viel mehr Mitleiden mit
uns haben, um so viel treuer wegen seiner Verwandtschaft
mit uns unser Vertreter und Türsprecher seyn. Ebr.
4. 15. -- Laßt uns annehmen: er sey allein Mensch.
Wie konnten wir denn gewiß seyn, er sey ohne Sünde?
Und davon mußten wir doch gewiß seyn, wenn wir glau-
ben sollten, er sey für unsre Sünden und nicht für seine
eignen, er sey der Gerechte für die Ungerechten gestorben?
Sein Tod soll ja die Versöhnug für alle Welt Sünden
seyn. 1 Joh. 2, 1-2. War er bloßer Mensch, wie
konnten wir das für wahr halten? Was ist für ein Ver-
hältniß zwischen Einem und vielen Millionen? Jst er
aber zugleich Gott, so wird uns die Sache in ein ehr-
würdiges Licht gestellt. Wenn der Mensch, der zugleich
Gott ist, für seine Brüder leidet und stirbt, so muß sein
Tod vor Gott einen unaussprechlichen Wehrt haben,
und alle Sünden aller Menschen sind nicht so groß als
dieses Opfer.

Jch kann Jhnen nicht beschreiben, sagte der
Graf, wie sehr meine Vernunft über diese Geheimnisse
der Religion befriedigt ist. Jemehr man über sie nach-
denkt, jemehr göttliche Weisheit entdecket man in ihnen.
Nur davor muß man sich hüten, daß man nicht überall
frage: warum? Man muß mit der Autorität des Urhe-
bers zufrieden seyn. Selbst in menschlichen Wissenschaf-
ten ist diese Bescheidenheit nöthig, man würde sonst über
nichts zur Gewißheit kommen. Man könnte in ganz
gemeinen Sachen lebenslang nachgrübeln, ehe man die
erste Ursache entdeckte. Jedes warum? würde unzählige

ähnliche



Leiden und Tod bey ihm moͤglich, nun konnte das, was
er that und litt, uns gleichſam zugerechnet werden, als
ſeinen Blutsfreunden, ſeinen Verwandten. Ebr. 2, 14.
Er erfuhr nun auch ſelbſt, was der Menſch iſt, von wel-
chen Schwachheiten er zum Abfall von Gott verſucht
wird: er kann alſo auch um ſo viel mehr Mitleiden mit
uns haben, um ſo viel treuer wegen ſeiner Verwandtſchaft
mit uns unſer Vertreter und Tuͤrſprecher ſeyn. Ebr.
4. 15. — Laßt uns annehmen: er ſey allein Menſch.
Wie konnten wir denn gewiß ſeyn, er ſey ohne Suͤnde?
Und davon mußten wir doch gewiß ſeyn, wenn wir glau-
ben ſollten, er ſey fuͤr unſre Suͤnden und nicht fuͤr ſeine
eignen, er ſey der Gerechte fuͤr die Ungerechten geſtorben?
Sein Tod ſoll ja die Verſoͤhnug fuͤr alle Welt Suͤnden
ſeyn. 1 Joh. 2, 1-2. War er bloßer Menſch, wie
konnten wir das fuͤr wahr halten? Was iſt fuͤr ein Ver-
haͤltniß zwiſchen Einem und vielen Millionen? Jſt er
aber zugleich Gott, ſo wird uns die Sache in ein ehr-
wuͤrdiges Licht geſtellt. Wenn der Menſch, der zugleich
Gott iſt, fuͤr ſeine Bruͤder leidet und ſtirbt, ſo muß ſein
Tod vor Gott einen unausſprechlichen Wehrt haben,
und alle Suͤnden aller Menſchen ſind nicht ſo groß als
dieſes Opfer.

Jch kann Jhnen nicht beſchreiben, ſagte der
Graf, wie ſehr meine Vernunft uͤber dieſe Geheimniſſe
der Religion befriedigt iſt. Jemehr man uͤber ſie nach-
denkt, jemehr goͤttliche Weisheit entdecket man in ihnen.
Nur davor muß man ſich huͤten, daß man nicht uͤberall
frage: warum? Man muß mit der Autoritaͤt des Urhe-
bers zufrieden ſeyn. Selbſt in menſchlichen Wiſſenſchaf-
ten iſt dieſe Beſcheidenheit noͤthig, man wuͤrde ſonſt uͤber
nichts zur Gewißheit kommen. Man koͤnnte in ganz
gemeinen Sachen lebenslang nachgruͤbeln, ehe man die
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[165/0177] Leiden und Tod bey ihm moͤglich, nun konnte das, was er that und litt, uns gleichſam zugerechnet werden, als ſeinen Blutsfreunden, ſeinen Verwandten. Ebr. 2, 14. Er erfuhr nun auch ſelbſt, was der Menſch iſt, von wel- chen Schwachheiten er zum Abfall von Gott verſucht wird: er kann alſo auch um ſo viel mehr Mitleiden mit uns haben, um ſo viel treuer wegen ſeiner Verwandtſchaft mit uns unſer Vertreter und Tuͤrſprecher ſeyn. Ebr. 4. 15. — Laßt uns annehmen: er ſey allein Menſch. Wie konnten wir denn gewiß ſeyn, er ſey ohne Suͤnde? Und davon mußten wir doch gewiß ſeyn, wenn wir glau- ben ſollten, er ſey fuͤr unſre Suͤnden und nicht fuͤr ſeine eignen, er ſey der Gerechte fuͤr die Ungerechten geſtorben? Sein Tod ſoll ja die Verſoͤhnug fuͤr alle Welt Suͤnden ſeyn. 1 Joh. 2, 1-2. War er bloßer Menſch, wie konnten wir das fuͤr wahr halten? Was iſt fuͤr ein Ver- haͤltniß zwiſchen Einem und vielen Millionen? Jſt er aber zugleich Gott, ſo wird uns die Sache in ein ehr- wuͤrdiges Licht geſtellt. Wenn der Menſch, der zugleich Gott iſt, fuͤr ſeine Bruͤder leidet und ſtirbt, ſo muß ſein Tod vor Gott einen unausſprechlichen Wehrt haben, und alle Suͤnden aller Menſchen ſind nicht ſo groß als dieſes Opfer. Jch kann Jhnen nicht beſchreiben, ſagte der Graf, wie ſehr meine Vernunft uͤber dieſe Geheimniſſe der Religion befriedigt iſt. Jemehr man uͤber ſie nach- denkt, jemehr goͤttliche Weisheit entdecket man in ihnen. Nur davor muß man ſich huͤten, daß man nicht uͤberall frage: warum? Man muß mit der Autoritaͤt des Urhe- bers zufrieden ſeyn. Selbſt in menſchlichen Wiſſenſchaf- ten iſt dieſe Beſcheidenheit noͤthig, man wuͤrde ſonſt uͤber nichts zur Gewißheit kommen. Man koͤnnte in ganz gemeinen Sachen lebenslang nachgruͤbeln, ehe man die erſte Urſache entdeckte. Jedes warum? wuͤrde unzaͤhlige aͤhnliche

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Zitationshilfe: Münter, Balthasar: Bekehrungsgeschichte des vormaligen Grafen [...] Johann Friederich Struensee. Kopenhagen, 1772, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/muenter_bekehren_1772/177>, abgerufen am 19.04.2024.