Am Tage Maria Magdalena. Ueber thierische Stumpfheit, Horn und Stoß- kraft des Menschengeschlechts.
Wenns einen wurmt, so gewinnt die gan- ze Schöpfung um den Murrkopf her, so weit sie in seinem Gesichtskraiß liegt, ein ander Ansehn, wird alles trüb und unlustig, und was in seinen Sehwinkel einfällt er- scheint ihm mißgestaltet. Liegts am Aug', oder an der Seel', oder an dem Ding sel- ber, das dem verstimmten Seher vorschwebt? Denk' wohl 's lieg' an beyden Letztern.
Wenns einem wohl ist, fixirt die Seel' ihre Aufmerksamkeit auf das, was ihrem Zustand homogen ist, und schlüpft schnell über das hinweg, was ihr widrige Ein- drück' machen könnt'; ihre Kontemplation ist nur auf angenehme erquickende Jdeen ge- richtet. Aber bey übler Laune heftet sie ih- re Aufmerksamkeit mehr aufs Unliebliche, weils mit ihrem Zustand zu der Zeit sympa- thisirt, und ist eine Beobachterinn aller Dis-
sonanz,
Am Tage Maria Magdalena. Ueber thieriſche Stumpfheit, Horn und Stoß- kraft des Menſchengeſchlechts.
Wenns einen wurmt, ſo gewinnt die gan- ze Schoͤpfung um den Murrkopf her, ſo weit ſie in ſeinem Geſichtskraiß liegt, ein ander Anſehn, wird alles truͤb und unluſtig, und was in ſeinen Sehwinkel einfaͤllt er- ſcheint ihm mißgeſtaltet. Liegts am Aug’, oder an der Seel’, oder an dem Ding ſel- ber, das dem verſtimmten Seher vorſchwebt? Denk’ wohl ’s lieg’ an beyden Letztern.
Wenns einem wohl iſt, fixirt die Seel’ ihre Aufmerkſamkeit auf das, was ihrem Zuſtand homogen iſt, und ſchluͤpft ſchnell uͤber das hinweg, was ihr widrige Ein- druͤck’ machen koͤnnt’; ihre Kontemplation iſt nur auf angenehme erquickende Jdeen ge- richtet. Aber bey uͤbler Laune heftet ſie ih- re Aufmerkſamkeit mehr aufs Unliebliche, weils mit ihrem Zuſtand zu der Zeit ſympa- thiſirt, und iſt eine Beobachterinn aller Diſ-
ſonanz,
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Am Tage Maria Magdalena.
Ueber thieriſche Stumpfheit, Horn und Stoß-
kraft des Menſchengeſchlechts.
Wenns einen wurmt, ſo gewinnt die gan-
ze Schoͤpfung um den Murrkopf her, ſo
weit ſie in ſeinem Geſichtskraiß liegt, ein
ander Anſehn, wird alles truͤb und unluſtig,
und was in ſeinen Sehwinkel einfaͤllt er-
ſcheint ihm mißgeſtaltet. Liegts am Aug’,
oder an der Seel’, oder an dem Ding ſel-
ber, das dem verſtimmten Seher vorſchwebt?
Denk’ wohl ’s lieg’ an beyden Letztern.
Wenns einem wohl iſt, fixirt die Seel’
ihre Aufmerkſamkeit auf das, was ihrem
Zuſtand homogen iſt, und ſchluͤpft ſchnell
uͤber das hinweg, was ihr widrige Ein-
druͤck’ machen koͤnnt’; ihre Kontemplation
iſt nur auf angenehme erquickende Jdeen ge-
richtet. Aber bey uͤbler Laune heftet ſie ih-
re Aufmerkſamkeit mehr aufs Unliebliche,
weils mit ihrem Zuſtand zu der Zeit ſympa-
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Musäus, Johann Karl August: Physiognomische Reisen. Bd. 1, 2. Aufl. Altenburg, 1779, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/musaeus_reisen01_1779/126>, abgerufen am 28.11.2023.
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