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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Sittliche für den Einzelnen, hängt davon ab, was es für alle,
was für die Person überhaupt, davon, was es an sich, sachlich,
objektiv ist. Das "Ich soll" hat, wenn nach dem Inhalt des
Sollens die Frage ist, zur Grundlage das "Es soll", das Gute
der Person das Gute der Sache, nicht umgekehrt.

Darum bleibt doch das Wollen des Guten selbst individuell *).
Es kann keiner für mich wollen, für mich Vernunft haben,
praktische so wenig wie theoretische. Dass ich oder mein
Thun gut sei, liegt rein an mir, an der Beschaffenheit meines
Wollens, und ist ganz davon unabhängig, ob auch der Andre es
dafür erkennt. Sittlichkeit besteht nicht durch einen Vertrag
auf Gegenseitigkeit; habe ich bei mir selbst etwas für gut er-
kannt, so bleibt es für mich geltend, und ob alle Welt es
anders befände. Der sittliche Wille unterwirft sich nur dem
Gesetz, das er sich selbst giebt. Allein jetzt ist nach dem
Inhalt des Gesetzes, nicht nach dem Gesetzgeber die Frage.
Die Gesetzesform selbst aber verleiht diesem Inhalt objektiven
und also überindividuellen Charakter. Der Glaube an eine
Sache ist (nach § 8) das Merkmal sogar des (eigentlichen)
Willens überhaupt, nicht erst des sittlichen Willens. Mag
aber einer den Gegenstand seines besonderen Wollens für seine
ausschliessliche Sache halten, so ist doch der Wille so lange
noch nicht rein sittlich, d. h. erfüllt er nicht rein sein eigenes
Gesetz, als man noch die eigene Sache gegensätzlich gegen
die des Andern stellt; er ist es erst dann, wenn ich erkenne:
meine Sache ist keine andre, soll keine andre sein, als die
auch jedes Andern Sache sein sollte und der Wahrheit nach ist.

Also bleibt es dabei, dass das Sittliche an und für sich,
seinem Inhalt nach, Gemeinschaftssache und in keiner Weise
Privatsache ist. Es ist nicht bloss an sich für alle eins und

*) So sagt Pestalozzi richtig in den "Nachforschungen" (Werke
hr. v. Seyffarth X 133; in der Sonderausg. Zürich, Schulthess 1886, S. 134):
"Die Sittlichkeit ist ganz individuell, sie besteht nicht unter zweien"; näm-
lich im Unterschied vom "gesellschaftlichen Recht", welches nach seiner
(Rousseau'schen) Auffassung auf Vertrag d. h. auf gegenseitiger Verpflich-
tung beruht. Dagegen wird das Sittliche seinem Inhalt nach von Pestalozzi
wesentlich sozial verstanden. (Vgl. Pestalozzis Ideen etc., und: Herbart,
Pestalozzi etc., 8. Vortrag.)

Sittliche für den Einzelnen, hängt davon ab, was es für alle,
was für die Person überhaupt, davon, was es an sich, sachlich,
objektiv ist. Das „Ich soll“ hat, wenn nach dem Inhalt des
Sollens die Frage ist, zur Grundlage das „Es soll“, das Gute
der Person das Gute der Sache, nicht umgekehrt.

Darum bleibt doch das Wollen des Guten selbst individuell *).
Es kann keiner für mich wollen, für mich Vernunft haben,
praktische so wenig wie theoretische. Dass ich oder mein
Thun gut sei, liegt rein an mir, an der Beschaffenheit meines
Wollens, und ist ganz davon unabhängig, ob auch der Andre es
dafür erkennt. Sittlichkeit besteht nicht durch einen Vertrag
auf Gegenseitigkeit; habe ich bei mir selbst etwas für gut er-
kannt, so bleibt es für mich geltend, und ob alle Welt es
anders befände. Der sittliche Wille unterwirft sich nur dem
Gesetz, das er sich selbst giebt. Allein jetzt ist nach dem
Inhalt des Gesetzes, nicht nach dem Gesetzgeber die Frage.
Die Gesetzesform selbst aber verleiht diesem Inhalt objektiven
und also überindividuellen Charakter. Der Glaube an eine
Sache ist (nach § 8) das Merkmal sogar des (eigentlichen)
Willens überhaupt, nicht erst des sittlichen Willens. Mag
aber einer den Gegenstand seines besonderen Wollens für seine
ausschliessliche Sache halten, so ist doch der Wille so lange
noch nicht rein sittlich, d. h. erfüllt er nicht rein sein eigenes
Gesetz, als man noch die eigene Sache gegensätzlich gegen
die des Andern stellt; er ist es erst dann, wenn ich erkenne:
meine Sache ist keine andre, soll keine andre sein, als die
auch jedes Andern Sache sein sollte und der Wahrheit nach ist.

Also bleibt es dabei, dass das Sittliche an und für sich,
seinem Inhalt nach, Gemeinschaftssache und in keiner Weise
Privatsache ist. Es ist nicht bloss an sich für alle eins und

*) So sagt Pestalozzi richtig in den „Nachforschungen“ (Werke
hr. v. Seyffarth X 133; in der Sonderausg. Zürich, Schulthess 1886, S. 134):
„Die Sittlichkeit ist ganz individuell, sie besteht nicht unter zweien“; näm-
lich im Unterschied vom „gesellschaftlichen Recht“, welches nach seiner
(Rousseau’schen) Auffassung auf Vertrag d. h. auf gegenseitiger Verpflich-
tung beruht. Dagegen wird das Sittliche seinem Inhalt nach von Pestalozzi
wesentlich sozial verstanden. (Vgl. Pestalozzis Ideen etc., und: Herbart,
Pestalozzi etc., 8. Vortrag.)
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[84/0100] Sittliche für den Einzelnen, hängt davon ab, was es für alle, was für die Person überhaupt, davon, was es an sich, sachlich, objektiv ist. Das „Ich soll“ hat, wenn nach dem Inhalt des Sollens die Frage ist, zur Grundlage das „Es soll“, das Gute der Person das Gute der Sache, nicht umgekehrt. Darum bleibt doch das Wollen des Guten selbst individuell *). Es kann keiner für mich wollen, für mich Vernunft haben, praktische so wenig wie theoretische. Dass ich oder mein Thun gut sei, liegt rein an mir, an der Beschaffenheit meines Wollens, und ist ganz davon unabhängig, ob auch der Andre es dafür erkennt. Sittlichkeit besteht nicht durch einen Vertrag auf Gegenseitigkeit; habe ich bei mir selbst etwas für gut er- kannt, so bleibt es für mich geltend, und ob alle Welt es anders befände. Der sittliche Wille unterwirft sich nur dem Gesetz, das er sich selbst giebt. Allein jetzt ist nach dem Inhalt des Gesetzes, nicht nach dem Gesetzgeber die Frage. Die Gesetzesform selbst aber verleiht diesem Inhalt objektiven und also überindividuellen Charakter. Der Glaube an eine Sache ist (nach § 8) das Merkmal sogar des (eigentlichen) Willens überhaupt, nicht erst des sittlichen Willens. Mag aber einer den Gegenstand seines besonderen Wollens für seine ausschliessliche Sache halten, so ist doch der Wille so lange noch nicht rein sittlich, d. h. erfüllt er nicht rein sein eigenes Gesetz, als man noch die eigene Sache gegensätzlich gegen die des Andern stellt; er ist es erst dann, wenn ich erkenne: meine Sache ist keine andre, soll keine andre sein, als die auch jedes Andern Sache sein sollte und der Wahrheit nach ist. Also bleibt es dabei, dass das Sittliche an und für sich, seinem Inhalt nach, Gemeinschaftssache und in keiner Weise Privatsache ist. Es ist nicht bloss an sich für alle eins und *) So sagt Pestalozzi richtig in den „Nachforschungen“ (Werke hr. v. Seyffarth X 133; in der Sonderausg. Zürich, Schulthess 1886, S. 134): „Die Sittlichkeit ist ganz individuell, sie besteht nicht unter zweien“; näm- lich im Unterschied vom „gesellschaftlichen Recht“, welches nach seiner (Rousseau’schen) Auffassung auf Vertrag d. h. auf gegenseitiger Verpflich- tung beruht. Dagegen wird das Sittliche seinem Inhalt nach von Pestalozzi wesentlich sozial verstanden. (Vgl. Pestalozzis Ideen etc., und: Herbart, Pestalozzi etc., 8. Vortrag.)

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/100>, abgerufen am 19.04.2024.