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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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Vornehmlich im Sinne dieser Tugend gilt den Griechen das
Sittliche als das Schöne (kalon) der Seele. Bei den Lateinern,
denen die Schönheit weniger im Gemüte liegt, verblasst das
zum honestum; als ob die äussere Rücksicht auf den ehr-
lichen Namen, auf das decorum beim Sittlichen die Haupt-
sache sei. Auch unser Wort "sittlich", das am öftesten von
dieser Tugend im besondern gebraucht wird, erinnert zunächst
an die äussere Sitte, die aber dann sich vertieft zum innerlich
Gesetzlichen, Wohlgeordneten.

Stets aber wird diese Tugend von den Griechen auf das
Triebleben bezogen, das, sich selbst überlassen, ohne Gesetz,
Ordnung und Maass, ohne innere Zusammenstimmung bliebe.
Dass das Ordnende die Vernunft, der vernünftige Wille ist, dass
"Besonnenheit" oder das ordnende Walten der Vernunft über
das Triebleben der eigentliche Grund dieser Tugend ist, aber
auch die Energie des sittlichen Willens, die "Tapferkeit" der
Selbstbezwingung dazu gehört, ist die wesentliche Errungen-
schaft der Philosophie, vorzugsweise der sokratisch-platonischen.
Damit ist in der That das notwendige Zusammenwirken der
drei Faktoren der Aktivität in dieser Tugend richtig erkannt;
die Beziehung auf das Triebleben aber bleibt vorwaltend.

Demnach lässt sich diese Tugend zutreffend als die des
Maasses oder der sittlichen Ordnung des Trieb-
lebens
bezeichnen. Mit einem Wort kann man sie als
Reinheit benennen; wobei man nicht so sehr an das Nega-
tive: die Freiheit von Sündenschmutz, von Befleckung der
Seele, als an das Positive: die ungetrübte Klarheit der inneren
Gesetzesordnung denke. So spricht man in ästhetischer An-
wendung von reiner Harmonie, reinen Farben, Reinheit der
künstlerischen Form, der Sprache, aber auch von Reinheit des
wissenschaftlichen Verfahrens, endlich und besonders von Rein-
heit gemütlicher und sonstiger Verhältnisse unter Menschen.
Das Gemeinsame in dem allen ist die gesetzmässig überein-
stimmende und durch solchen Einklang befriedigende innere
Verfassung, und zwar nicht als bloss gedacht oder angestrebt,
sondern unmittelbar im Stoff dargestellt; das ist genau der
Begriff, den wir brauchen.


Vornehmlich im Sinne dieser Tugend gilt den Griechen das
Sittliche als das Schöne (καλόν) der Seele. Bei den Lateinern,
denen die Schönheit weniger im Gemüte liegt, verblasst das
zum honestum; als ob die äussere Rücksicht auf den ehr-
lichen Namen, auf das decorum beim Sittlichen die Haupt-
sache sei. Auch unser Wort „sittlich“, das am öftesten von
dieser Tugend im besondern gebraucht wird, erinnert zunächst
an die äussere Sitte, die aber dann sich vertieft zum innerlich
Gesetzlichen, Wohlgeordneten.

Stets aber wird diese Tugend von den Griechen auf das
Triebleben bezogen, das, sich selbst überlassen, ohne Gesetz,
Ordnung und Maass, ohne innere Zusammenstimmung bliebe.
Dass das Ordnende die Vernunft, der vernünftige Wille ist, dass
„Besonnenheit“ oder das ordnende Walten der Vernunft über
das Triebleben der eigentliche Grund dieser Tugend ist, aber
auch die Energie des sittlichen Willens, die „Tapferkeit“ der
Selbstbezwingung dazu gehört, ist die wesentliche Errungen-
schaft der Philosophie, vorzugsweise der sokratisch-platonischen.
Damit ist in der That das notwendige Zusammenwirken der
drei Faktoren der Aktivität in dieser Tugend richtig erkannt;
die Beziehung auf das Triebleben aber bleibt vorwaltend.

Demnach lässt sich diese Tugend zutreffend als die des
Maasses oder der sittlichen Ordnung des Trieb-
lebens
bezeichnen. Mit einem Wort kann man sie als
Reinheit benennen; wobei man nicht so sehr an das Nega-
tive: die Freiheit von Sündenschmutz, von Befleckung der
Seele, als an das Positive: die ungetrübte Klarheit der inneren
Gesetzesordnung denke. So spricht man in ästhetischer An-
wendung von reiner Harmonie, reinen Farben, Reinheit der
künstlerischen Form, der Sprache, aber auch von Reinheit des
wissenschaftlichen Verfahrens, endlich und besonders von Rein-
heit gemütlicher und sonstiger Verhältnisse unter Menschen.
Das Gemeinsame in dem allen ist die gesetzmässig überein-
stimmende und durch solchen Einklang befriedigende innere
Verfassung, und zwar nicht als bloss gedacht oder angestrebt,
sondern unmittelbar im Stoff dargestellt; das ist genau der
Begriff, den wir brauchen.


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[110/0126] Vornehmlich im Sinne dieser Tugend gilt den Griechen das Sittliche als das Schöne (καλόν) der Seele. Bei den Lateinern, denen die Schönheit weniger im Gemüte liegt, verblasst das zum honestum; als ob die äussere Rücksicht auf den ehr- lichen Namen, auf das decorum beim Sittlichen die Haupt- sache sei. Auch unser Wort „sittlich“, das am öftesten von dieser Tugend im besondern gebraucht wird, erinnert zunächst an die äussere Sitte, die aber dann sich vertieft zum innerlich Gesetzlichen, Wohlgeordneten. Stets aber wird diese Tugend von den Griechen auf das Triebleben bezogen, das, sich selbst überlassen, ohne Gesetz, Ordnung und Maass, ohne innere Zusammenstimmung bliebe. Dass das Ordnende die Vernunft, der vernünftige Wille ist, dass „Besonnenheit“ oder das ordnende Walten der Vernunft über das Triebleben der eigentliche Grund dieser Tugend ist, aber auch die Energie des sittlichen Willens, die „Tapferkeit“ der Selbstbezwingung dazu gehört, ist die wesentliche Errungen- schaft der Philosophie, vorzugsweise der sokratisch-platonischen. Damit ist in der That das notwendige Zusammenwirken der drei Faktoren der Aktivität in dieser Tugend richtig erkannt; die Beziehung auf das Triebleben aber bleibt vorwaltend. Demnach lässt sich diese Tugend zutreffend als die des Maasses oder der sittlichen Ordnung des Trieb- lebens bezeichnen. Mit einem Wort kann man sie als Reinheit benennen; wobei man nicht so sehr an das Nega- tive: die Freiheit von Sündenschmutz, von Befleckung der Seele, als an das Positive: die ungetrübte Klarheit der inneren Gesetzesordnung denke. So spricht man in ästhetischer An- wendung von reiner Harmonie, reinen Farben, Reinheit der künstlerischen Form, der Sprache, aber auch von Reinheit des wissenschaftlichen Verfahrens, endlich und besonders von Rein- heit gemütlicher und sonstiger Verhältnisse unter Menschen. Das Gemeinsame in dem allen ist die gesetzmässig überein- stimmende und durch solchen Einklang befriedigende innere Verfassung, und zwar nicht als bloss gedacht oder angestrebt, sondern unmittelbar im Stoff dargestellt; das ist genau der Begriff, den wir brauchen.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/126>, abgerufen am 29.03.2024.