Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht als blosse Zeichnung eines abstrakten Ideals gemeint
war, sondern volle Durchführbarkeit für sich in Anspruch
nahm.*) Auf diese Weise wird die Aufgabe der Menschen-
bildung in unhaltbarer Weise vom Naturgrunde des mensch-
lichen Daseins losgerissen; wovon die unvermeidliche Folge
ist, dass sie selbst nun nicht mehr recht gedeihen kann, be-
sonders nicht auch bis zu den niederen Stufen der Gemein-
schaft herabreicht, wie sie doch müsste, wenn die so stark
betonte Einheit des Staats nicht zerfallen soll. So bleibt denn
der gross gedachte Erziehungsplan des platonischen Staats
auf die regierende Klasse beschränkt, kommt also nicht, wie
es der Anlage des Systems nach gefordert wäre, dem ganzen
Staat zu gute. Statt dessen müssen wir die Aufgabe gerade
darin sehen, das ganze menschliche Dasein bis zu seiner letzten
triebartigen Wurzel herab zu versittlichen. Das kann aber
nur geschehen, indem die Vernunftidee zwar an die Spitze
tritt, ihre Realisierung aber allein angestrebt wird auf dem
Boden der wirtschaftlichen und der politischen Thätigkeit, die
dadurch selbst zu einem edlen sittlichen Range emporgehoben
werden. Der Mensch ist allerdings nicht um der Arbeit oder
des Regiments willen da, sondern Arbeit und Regiment um
des Menschen willen; allein er ist darum nicht weniger auf
Arbeit angewiesen, und bedarf nicht weniger, der Arbeit und
ihrer sittlichen Ordnung wegen, des Regiments. Es gilt nur
beide auch diesem ihrem höchsten Zweck gemäss zu gestalten;
so erreichen sie gerade in dieser Unterordnung unter einen
edleren Zweck, als sie für sich selbst aufweisen könnten, die
höchste ihnen zustehende Würde. Was könnten sie denn
Höheres wollen als zum Menschentum an ihrem Teil beitragen?

Nur der Andeutung bedarf, dass, wie die wirtschaftliche
und regierende, so auch die bildende Thätigkeit im sozialen
Leben auch und besonders deswegen in einem eigenen Kreise
von Thätigkeiten und zwar sozial geordneten Thätigkeiten
sich abzusondern nötig hat, weil sie neben ihren weiteren
Zwecken auch für ihre eigene Reproduktion fort und fort

*) Vgl. "Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik."

nicht als blosse Zeichnung eines abstrakten Ideals gemeint
war, sondern volle Durchführbarkeit für sich in Anspruch
nahm.*) Auf diese Weise wird die Aufgabe der Menschen-
bildung in unhaltbarer Weise vom Naturgrunde des mensch-
lichen Daseins losgerissen; wovon die unvermeidliche Folge
ist, dass sie selbst nun nicht mehr recht gedeihen kann, be-
sonders nicht auch bis zu den niederen Stufen der Gemein-
schaft herabreicht, wie sie doch müsste, wenn die so stark
betonte Einheit des Staats nicht zerfallen soll. So bleibt denn
der gross gedachte Erziehungsplan des platonischen Staats
auf die regierende Klasse beschränkt, kommt also nicht, wie
es der Anlage des Systems nach gefordert wäre, dem ganzen
Staat zu gute. Statt dessen müssen wir die Aufgabe gerade
darin sehen, das ganze menschliche Dasein bis zu seiner letzten
triebartigen Wurzel herab zu versittlichen. Das kann aber
nur geschehen, indem die Vernunftidee zwar an die Spitze
tritt, ihre Realisierung aber allein angestrebt wird auf dem
Boden der wirtschaftlichen und der politischen Thätigkeit, die
dadurch selbst zu einem edlen sittlichen Range emporgehoben
werden. Der Mensch ist allerdings nicht um der Arbeit oder
des Regiments willen da, sondern Arbeit und Regiment um
des Menschen willen; allein er ist darum nicht weniger auf
Arbeit angewiesen, und bedarf nicht weniger, der Arbeit und
ihrer sittlichen Ordnung wegen, des Regiments. Es gilt nur
beide auch diesem ihrem höchsten Zweck gemäss zu gestalten;
so erreichen sie gerade in dieser Unterordnung unter einen
edleren Zweck, als sie für sich selbst aufweisen könnten, die
höchste ihnen zustehende Würde. Was könnten sie denn
Höheres wollen als zum Menschentum an ihrem Teil beitragen?

Nur der Andeutung bedarf, dass, wie die wirtschaftliche
und regierende, so auch die bildende Thätigkeit im sozialen
Leben auch und besonders deswegen in einem eigenen Kreise
von Thätigkeiten und zwar sozial geordneten Thätigkeiten
sich abzusondern nötig hat, weil sie neben ihren weiteren
Zwecken auch für ihre eigene Reproduktion fort und fort

*) Vgl. „Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik.“
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0175" n="159"/>
nicht als blosse Zeichnung eines abstrakten Ideals gemeint<lb/>
war, sondern volle Durchführbarkeit für sich in Anspruch<lb/>
nahm.<note place="foot" n="*)">Vgl. &#x201E;Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik.&#x201C;</note> Auf diese Weise wird die Aufgabe der Menschen-<lb/>
bildung in unhaltbarer Weise vom Naturgrunde des mensch-<lb/>
lichen Daseins losgerissen; wovon die unvermeidliche Folge<lb/>
ist, dass sie selbst nun nicht mehr recht gedeihen kann, be-<lb/>
sonders nicht auch bis zu den niederen Stufen der Gemein-<lb/>
schaft herabreicht, wie sie doch müsste, wenn die so stark<lb/>
betonte Einheit des Staats nicht zerfallen soll. So bleibt denn<lb/>
der gross gedachte Erziehungsplan des platonischen Staats<lb/>
auf die regierende Klasse beschränkt, kommt also nicht, wie<lb/>
es der Anlage des Systems nach gefordert wäre, dem <hi rendition="#g">ganzen</hi><lb/>
Staat zu gute. Statt dessen müssen wir die Aufgabe gerade<lb/>
darin sehen, das ganze menschliche Dasein bis zu seiner letzten<lb/>
triebartigen Wurzel herab zu versittlichen. Das kann aber<lb/>
nur geschehen, indem die Vernunftidee zwar an die Spitze<lb/>
tritt, ihre Realisierung aber allein angestrebt wird auf dem<lb/>
Boden der wirtschaftlichen und der politischen Thätigkeit, die<lb/>
dadurch selbst zu einem edlen sittlichen Range emporgehoben<lb/>
werden. Der Mensch ist allerdings nicht um der Arbeit oder<lb/>
des Regiments willen da, sondern Arbeit und Regiment um<lb/>
des Menschen willen; allein er ist darum nicht weniger auf<lb/>
Arbeit angewiesen, und bedarf nicht weniger, der Arbeit und<lb/>
ihrer sittlichen Ordnung wegen, des Regiments. Es gilt nur<lb/>
beide auch diesem ihrem höchsten Zweck gemäss zu gestalten;<lb/>
so erreichen sie gerade in dieser Unterordnung unter einen<lb/>
edleren Zweck, als sie für sich selbst aufweisen könnten, die<lb/>
höchste ihnen zustehende Würde. Was könnten sie denn<lb/>
Höheres wollen als zum Menschentum an ihrem Teil beitragen?</p><lb/>
          <p>Nur der Andeutung bedarf, dass, wie die wirtschaftliche<lb/>
und regierende, so auch die bildende Thätigkeit im sozialen<lb/>
Leben auch und besonders deswegen in einem eigenen Kreise<lb/>
von Thätigkeiten und zwar sozial geordneten Thätigkeiten<lb/>
sich abzusondern nötig hat, weil sie neben ihren weiteren<lb/>
Zwecken auch für ihre eigene Reproduktion fort und fort<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159/0175] nicht als blosse Zeichnung eines abstrakten Ideals gemeint war, sondern volle Durchführbarkeit für sich in Anspruch nahm. *) Auf diese Weise wird die Aufgabe der Menschen- bildung in unhaltbarer Weise vom Naturgrunde des mensch- lichen Daseins losgerissen; wovon die unvermeidliche Folge ist, dass sie selbst nun nicht mehr recht gedeihen kann, be- sonders nicht auch bis zu den niederen Stufen der Gemein- schaft herabreicht, wie sie doch müsste, wenn die so stark betonte Einheit des Staats nicht zerfallen soll. So bleibt denn der gross gedachte Erziehungsplan des platonischen Staats auf die regierende Klasse beschränkt, kommt also nicht, wie es der Anlage des Systems nach gefordert wäre, dem ganzen Staat zu gute. Statt dessen müssen wir die Aufgabe gerade darin sehen, das ganze menschliche Dasein bis zu seiner letzten triebartigen Wurzel herab zu versittlichen. Das kann aber nur geschehen, indem die Vernunftidee zwar an die Spitze tritt, ihre Realisierung aber allein angestrebt wird auf dem Boden der wirtschaftlichen und der politischen Thätigkeit, die dadurch selbst zu einem edlen sittlichen Range emporgehoben werden. Der Mensch ist allerdings nicht um der Arbeit oder des Regiments willen da, sondern Arbeit und Regiment um des Menschen willen; allein er ist darum nicht weniger auf Arbeit angewiesen, und bedarf nicht weniger, der Arbeit und ihrer sittlichen Ordnung wegen, des Regiments. Es gilt nur beide auch diesem ihrem höchsten Zweck gemäss zu gestalten; so erreichen sie gerade in dieser Unterordnung unter einen edleren Zweck, als sie für sich selbst aufweisen könnten, die höchste ihnen zustehende Würde. Was könnten sie denn Höheres wollen als zum Menschentum an ihrem Teil beitragen? Nur der Andeutung bedarf, dass, wie die wirtschaftliche und regierende, so auch die bildende Thätigkeit im sozialen Leben auch und besonders deswegen in einem eigenen Kreise von Thätigkeiten und zwar sozial geordneten Thätigkeiten sich abzusondern nötig hat, weil sie neben ihren weiteren Zwecken auch für ihre eigene Reproduktion fort und fort *) Vgl. „Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/175
Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/175>, abgerufen am 19.04.2024.