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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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durch das Ehrgefühl geltend zu machen. Aber, wo ein
einigermaassen empfindliches Ehrgefühl überhaupt vorhanden ist,
da giebt es andere Mittel darauf zu wirken, und ist diese
Wirkung wahrscheinlich schon zu scharf; sie erniedrigt den
Zögling vor sich selbst in einer Weise, die es ihm schwer
macht, sich wieder zu erheben. Wo dagegen das Ehrgefühl
nicht vorhanden oder nicht genügend empfindlich ist, da ver-
fehlt die Strafe nicht bloss ihren Zweck, sondern sie trägt zur
weiteren Abstumpfung des Gefühls bei. Man gewöhnt sich
an die Beschämung, und es bleibt nur die jedenfalls schädliche
Wirkung durch die Furcht. Beide Arten der Wirkung körper-
licher Strafen haben das gemein, dass sie das herzliche Ver-
hältnis zwischen Erzieher und Zögling, wenn es je vorhanden
war, empfindlich stören, vielleicht ganz zunichte machen. Ein-
schüchterung durch Gewaltthat und Beschämung sind einmal
nicht die tauglichsten Mittel, das Herz eines Menschen zu ge-
winnen. Alle repressiven Mittel der Erziehung müssten doch
vor allem dahin streben, die günstigsten Voraussetzungen für
eine nachfolgende positive Einwirkung herzustellen; durch Ein-
schüchterung aber und Beschämung zieht man dieser nach-
folgenden positiven Wirkung gerade allen Boden unter den Füssen
weg. Man giebt damit das Kind aus der Hand, man weist
es geradezu an, sich in sich zu verschliessen, der Leitung des
Erziehers vielleicht äusserlich bis zur Vermeidung groben Kon-
flikts zu folgen, aber innerlich sich ihr desto mehr zu entziehen.

Es giebt, bei dieser wie jeder andern Art der Züchtigung,
nur einen Weg, der die letztere, vielleicht ernsteste Gefahr
sicher vermeidet: die Züchtigung muss als reiner Ausfluss der
Liebe und des sittlichen Ernstes des Erziehers vom
Zögling verstanden werden. Das ist an sich möglich; und wo
es so ist, da mag im gegebenen Fall die körperliche Züchtigung
immerhin gewagt werden. Aber man muss wissen, dass sie
selbst dann noch ein gewagtes Mittel bleibt. Die Voraussetzung
ihrer Zulässigkeit ist, dass durch das ganze bisherige Verhalten
des Erziehers die Ueberzeugung von seiner Liebe und das Zu-
trauen zu seiner Führung im ganzen zu unerschütterlicher
Festigkeit bereits gebracht ist. Das ist möglich und an sich

durch das Ehrgefühl geltend zu machen. Aber, wo ein
einigermaassen empfindliches Ehrgefühl überhaupt vorhanden ist,
da giebt es andere Mittel darauf zu wirken, und ist diese
Wirkung wahrscheinlich schon zu scharf; sie erniedrigt den
Zögling vor sich selbst in einer Weise, die es ihm schwer
macht, sich wieder zu erheben. Wo dagegen das Ehrgefühl
nicht vorhanden oder nicht genügend empfindlich ist, da ver-
fehlt die Strafe nicht bloss ihren Zweck, sondern sie trägt zur
weiteren Abstumpfung des Gefühls bei. Man gewöhnt sich
an die Beschämung, und es bleibt nur die jedenfalls schädliche
Wirkung durch die Furcht. Beide Arten der Wirkung körper-
licher Strafen haben das gemein, dass sie das herzliche Ver-
hältnis zwischen Erzieher und Zögling, wenn es je vorhanden
war, empfindlich stören, vielleicht ganz zunichte machen. Ein-
schüchterung durch Gewaltthat und Beschämung sind einmal
nicht die tauglichsten Mittel, das Herz eines Menschen zu ge-
winnen. Alle repressiven Mittel der Erziehung müssten doch
vor allem dahin streben, die günstigsten Voraussetzungen für
eine nachfolgende positive Einwirkung herzustellen; durch Ein-
schüchterung aber und Beschämung zieht man dieser nach-
folgenden positiven Wirkung gerade allen Boden unter den Füssen
weg. Man giebt damit das Kind aus der Hand, man weist
es geradezu an, sich in sich zu verschliessen, der Leitung des
Erziehers vielleicht äusserlich bis zur Vermeidung groben Kon-
flikts zu folgen, aber innerlich sich ihr desto mehr zu entziehen.

Es giebt, bei dieser wie jeder andern Art der Züchtigung,
nur einen Weg, der die letztere, vielleicht ernsteste Gefahr
sicher vermeidet: die Züchtigung muss als reiner Ausfluss der
Liebe und des sittlichen Ernstes des Erziehers vom
Zögling verstanden werden. Das ist an sich möglich; und wo
es so ist, da mag im gegebenen Fall die körperliche Züchtigung
immerhin gewagt werden. Aber man muss wissen, dass sie
selbst dann noch ein gewagtes Mittel bleibt. Die Voraussetzung
ihrer Zulässigkeit ist, dass durch das ganze bisherige Verhalten
des Erziehers die Ueberzeugung von seiner Liebe und das Zu-
trauen zu seiner Führung im ganzen zu unerschütterlicher
Festigkeit bereits gebracht ist. Das ist möglich und an sich

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[236/0252] durch das Ehrgefühl geltend zu machen. Aber, wo ein einigermaassen empfindliches Ehrgefühl überhaupt vorhanden ist, da giebt es andere Mittel darauf zu wirken, und ist diese Wirkung wahrscheinlich schon zu scharf; sie erniedrigt den Zögling vor sich selbst in einer Weise, die es ihm schwer macht, sich wieder zu erheben. Wo dagegen das Ehrgefühl nicht vorhanden oder nicht genügend empfindlich ist, da ver- fehlt die Strafe nicht bloss ihren Zweck, sondern sie trägt zur weiteren Abstumpfung des Gefühls bei. Man gewöhnt sich an die Beschämung, und es bleibt nur die jedenfalls schädliche Wirkung durch die Furcht. Beide Arten der Wirkung körper- licher Strafen haben das gemein, dass sie das herzliche Ver- hältnis zwischen Erzieher und Zögling, wenn es je vorhanden war, empfindlich stören, vielleicht ganz zunichte machen. Ein- schüchterung durch Gewaltthat und Beschämung sind einmal nicht die tauglichsten Mittel, das Herz eines Menschen zu ge- winnen. Alle repressiven Mittel der Erziehung müssten doch vor allem dahin streben, die günstigsten Voraussetzungen für eine nachfolgende positive Einwirkung herzustellen; durch Ein- schüchterung aber und Beschämung zieht man dieser nach- folgenden positiven Wirkung gerade allen Boden unter den Füssen weg. Man giebt damit das Kind aus der Hand, man weist es geradezu an, sich in sich zu verschliessen, der Leitung des Erziehers vielleicht äusserlich bis zur Vermeidung groben Kon- flikts zu folgen, aber innerlich sich ihr desto mehr zu entziehen. Es giebt, bei dieser wie jeder andern Art der Züchtigung, nur einen Weg, der die letztere, vielleicht ernsteste Gefahr sicher vermeidet: die Züchtigung muss als reiner Ausfluss der Liebe und des sittlichen Ernstes des Erziehers vom Zögling verstanden werden. Das ist an sich möglich; und wo es so ist, da mag im gegebenen Fall die körperliche Züchtigung immerhin gewagt werden. Aber man muss wissen, dass sie selbst dann noch ein gewagtes Mittel bleibt. Die Voraussetzung ihrer Zulässigkeit ist, dass durch das ganze bisherige Verhalten des Erziehers die Ueberzeugung von seiner Liebe und das Zu- trauen zu seiner Führung im ganzen zu unerschütterlicher Festigkeit bereits gebracht ist. Das ist möglich und an sich

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/252>, abgerufen am 24.04.2024.