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Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899.

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lichkeit einer und derselbe; und auch unterhalb des gemein-
samen Prinzips, der Gesetzlichkeit überhaupt oder der durch-
gängigen Einheit des Bewusstseins, stehen sie zu einander in
einem Verhältnis gegenseitiger Ergänzung, so dass, wer das
Gesetz des Verstandes rein und von seinem Prinzip aus be-
greift, sich auch der Anerkennung des Willensgesetzes nicht
wird entziehen können, und umgekehrt. Dagegen folgt aus
diesen Voraussetzungen nicht eine einseitige Abhängigkeit der
Willensbildung von der Intellektbildung, wie Herbart sie be-
hauptet. Indem nämlich der "Verstand" -- für uns nur der
kurze Ausdruck für eine bestimmte Art gesetzlicher Gestaltung
von Bewusstsein -- unter Herbarts psychologischem Gesichts-
punkt als "Seelenvermögen" verdächtig wurde, setzte er an
seine Stelle eine vielfältige Verflechtung einer unübersehbaren
Menge einzelner "Vorstellungen", d. h. das Formgesetz des
Verstehens verschwand gänzlich vor der in ungerechtfertigter
Weise verselbständigten Materie. Umso weniger konnte beim
Willen die beherrschende Bedeutung der Form, und also die
ganze Berechtigung eines eigentümlichen Begriffs des Willens
überhaupt noch anerkannt werden; was die Gegnerschaft Herbarts
gegen Kant in der Ethik wie in der Psychologie des Willens
erklärt. Dagegen ist nach unsrer Auffassung der Wille dem
Intellekt, mit dem er den Stoff gemein hat, der Form nach
vielmehr übergeordnet. Aus der Gemeinsamkeit des Stoffs folgt
die Notwendigkeit einer durchgehenden Verbindung von Intellekt-
und Willensbildung von der untersten Stufe bis zur Höhe mensch-
licher Entwicklung; aus der formalen Unterordnung des Ver-
stands unter den Willen aber: dass einesteils die Verstandes-
entwicklung eine beständige Uebung des Willens und insofern
zugleich seiner Entwicklung dienstbar ist; andernteils die eigene
Gesetzlichkeit des Willens im Unterschied von der des Ver-
standes, obgleich ohne Widerspruch gegen sie, zu deutlichem,
abgesondertem Bewusstsein gebracht werden muss. Es muss
daher eine praktische Lehre sich von der theoretischen bestimmt
sondern; während alle direkte Uebung Verstand und Willen
gemeinsam in Anspruch nimmt, aber auch die Lehre für den
Verstand zugleich Uebung für den Willen ist.


lichkeit einer und derselbe; und auch unterhalb des gemein-
samen Prinzips, der Gesetzlichkeit überhaupt oder der durch-
gängigen Einheit des Bewusstseins, stehen sie zu einander in
einem Verhältnis gegenseitiger Ergänzung, so dass, wer das
Gesetz des Verstandes rein und von seinem Prinzip aus be-
greift, sich auch der Anerkennung des Willensgesetzes nicht
wird entziehen können, und umgekehrt. Dagegen folgt aus
diesen Voraussetzungen nicht eine einseitige Abhängigkeit der
Willensbildung von der Intellektbildung, wie Herbart sie be-
hauptet. Indem nämlich der „Verstand“ — für uns nur der
kurze Ausdruck für eine bestimmte Art gesetzlicher Gestaltung
von Bewusstsein — unter Herbarts psychologischem Gesichts-
punkt als „Seelenvermögen“ verdächtig wurde, setzte er an
seine Stelle eine vielfältige Verflechtung einer unübersehbaren
Menge einzelner „Vorstellungen“, d. h. das Formgesetz des
Verstehens verschwand gänzlich vor der in ungerechtfertigter
Weise verselbständigten Materie. Umso weniger konnte beim
Willen die beherrschende Bedeutung der Form, und also die
ganze Berechtigung eines eigentümlichen Begriffs des Willens
überhaupt noch anerkannt werden; was die Gegnerschaft Herbarts
gegen Kant in der Ethik wie in der Psychologie des Willens
erklärt. Dagegen ist nach unsrer Auffassung der Wille dem
Intellekt, mit dem er den Stoff gemein hat, der Form nach
vielmehr übergeordnet. Aus der Gemeinsamkeit des Stoffs folgt
die Notwendigkeit einer durchgehenden Verbindung von Intellekt-
und Willensbildung von der untersten Stufe bis zur Höhe mensch-
licher Entwicklung; aus der formalen Unterordnung des Ver-
stands unter den Willen aber: dass einesteils die Verstandes-
entwicklung eine beständige Uebung des Willens und insofern
zugleich seiner Entwicklung dienstbar ist; andernteils die eigene
Gesetzlichkeit des Willens im Unterschied von der des Ver-
standes, obgleich ohne Widerspruch gegen sie, zu deutlichem,
abgesondertem Bewusstsein gebracht werden muss. Es muss
daher eine praktische Lehre sich von der theoretischen bestimmt
sondern; während alle direkte Uebung Verstand und Willen
gemeinsam in Anspruch nimmt, aber auch die Lehre für den
Verstand zugleich Uebung für den Willen ist.


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[270/0286] lichkeit einer und derselbe; und auch unterhalb des gemein- samen Prinzips, der Gesetzlichkeit überhaupt oder der durch- gängigen Einheit des Bewusstseins, stehen sie zu einander in einem Verhältnis gegenseitiger Ergänzung, so dass, wer das Gesetz des Verstandes rein und von seinem Prinzip aus be- greift, sich auch der Anerkennung des Willensgesetzes nicht wird entziehen können, und umgekehrt. Dagegen folgt aus diesen Voraussetzungen nicht eine einseitige Abhängigkeit der Willensbildung von der Intellektbildung, wie Herbart sie be- hauptet. Indem nämlich der „Verstand“ — für uns nur der kurze Ausdruck für eine bestimmte Art gesetzlicher Gestaltung von Bewusstsein — unter Herbarts psychologischem Gesichts- punkt als „Seelenvermögen“ verdächtig wurde, setzte er an seine Stelle eine vielfältige Verflechtung einer unübersehbaren Menge einzelner „Vorstellungen“, d. h. das Formgesetz des Verstehens verschwand gänzlich vor der in ungerechtfertigter Weise verselbständigten Materie. Umso weniger konnte beim Willen die beherrschende Bedeutung der Form, und also die ganze Berechtigung eines eigentümlichen Begriffs des Willens überhaupt noch anerkannt werden; was die Gegnerschaft Herbarts gegen Kant in der Ethik wie in der Psychologie des Willens erklärt. Dagegen ist nach unsrer Auffassung der Wille dem Intellekt, mit dem er den Stoff gemein hat, der Form nach vielmehr übergeordnet. Aus der Gemeinsamkeit des Stoffs folgt die Notwendigkeit einer durchgehenden Verbindung von Intellekt- und Willensbildung von der untersten Stufe bis zur Höhe mensch- licher Entwicklung; aus der formalen Unterordnung des Ver- stands unter den Willen aber: dass einesteils die Verstandes- entwicklung eine beständige Uebung des Willens und insofern zugleich seiner Entwicklung dienstbar ist; andernteils die eigene Gesetzlichkeit des Willens im Unterschied von der des Ver- standes, obgleich ohne Widerspruch gegen sie, zu deutlichem, abgesondertem Bewusstsein gebracht werden muss. Es muss daher eine praktische Lehre sich von der theoretischen bestimmt sondern; während alle direkte Uebung Verstand und Willen gemeinsam in Anspruch nimmt, aber auch die Lehre für den Verstand zugleich Uebung für den Willen ist.

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Zitationshilfe: Natorp, Paul: Sozialpädagogik. Stuttgart, 1899, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/natorp_sozialpaedagogik_1899/286>, abgerufen am 28.03.2024.