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Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775.

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stillen Aufmerksamkeit der Bäuerinn und ihrer Kinder.
Auch der Vortrag seines Reisegefährten war ihm nicht
zuwider; denn dieser besaß vollkommen die Biegsam-
keit, mit welcher Leute seiner Art sich bestreben, bey
denjenigen, die sie nicht bekehren können, wenig-
stens eine gute Meinung von sich zu hinterlassen. Er
vermied also in seinem Vortrage, sehr weislich, alle
Punkte, über die, wie er unterweges gemerkt hatte,
Sebaldus anderer Meinung war, und hielt sich bey
allgemeinen ascetischen Betrachtungen auf, die der
Bauerfamilie begreiflich schienen, und beym Sebal-
dus
gleichförmige Gedanken erregten, mit denen er
sich sehr zufrieden zur Ruhe legte.

Den Morgen früh, nach eingenommenem reich-
lichem Frühstück, dankten sie ihrer Wohlthäterinn,
und setzten ihren Weg weiter fort. Sebaldus ge-
noß den schönen Morgen, sang ein fröhliches Morgen-
lied, und war so innig vergnügt, daß er gar nicht
daran dachte, wie mißlich sein Zustand war, und
welchen Zweck die Reise, auf der er itzt eben begriffen
war, haben könnte, bis sein Reisegefährte selbst das
Gespräch auf Berlin brachte, wohin sie giengen. Dieser
beseufzete, mit auf die linke Achsel gesenktem Haupte,
und gen Himmel erhabenen Augen, das Elend dieser
großen Stadt, wo, wie er verficherte, die Religion

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ſtillen Aufmerkſamkeit der Baͤuerinn und ihrer Kinder.
Auch der Vortrag ſeines Reiſegefaͤhrten war ihm nicht
zuwider; denn dieſer beſaß vollkommen die Biegſam-
keit, mit welcher Leute ſeiner Art ſich beſtreben, bey
denjenigen, die ſie nicht bekehren koͤnnen, wenig-
ſtens eine gute Meinung von ſich zu hinterlaſſen. Er
vermied alſo in ſeinem Vortrage, ſehr weislich, alle
Punkte, uͤber die, wie er unterweges gemerkt hatte,
Sebaldus anderer Meinung war, und hielt ſich bey
allgemeinen aſcetiſchen Betrachtungen auf, die der
Bauerfamilie begreiflich ſchienen, und beym Sebal-
dus
gleichfoͤrmige Gedanken erregten, mit denen er
ſich ſehr zufrieden zur Ruhe legte.

Den Morgen fruͤh, nach eingenommenem reich-
lichem Fruͤhſtuͤck, dankten ſie ihrer Wohlthaͤterinn,
und ſetzten ihren Weg weiter fort. Sebaldus ge-
noß den ſchoͤnen Morgen, ſang ein froͤhliches Morgen-
lied, und war ſo innig vergnuͤgt, daß er gar nicht
daran dachte, wie mißlich ſein Zuſtand war, und
welchen Zweck die Reiſe, auf der er itzt eben begriffen
war, haben koͤnnte, bis ſein Reiſegefaͤhrte ſelbſt das
Geſpraͤch auf Berlin brachte, wohin ſie giengen. Dieſer
beſeufzete, mit auf die linke Achſel geſenktem Haupte,
und gen Himmel erhabenen Augen, das Elend dieſer
großen Stadt, wo, wie er verficherte, die Religion

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[19/0023] ſtillen Aufmerkſamkeit der Baͤuerinn und ihrer Kinder. Auch der Vortrag ſeines Reiſegefaͤhrten war ihm nicht zuwider; denn dieſer beſaß vollkommen die Biegſam- keit, mit welcher Leute ſeiner Art ſich beſtreben, bey denjenigen, die ſie nicht bekehren koͤnnen, wenig- ſtens eine gute Meinung von ſich zu hinterlaſſen. Er vermied alſo in ſeinem Vortrage, ſehr weislich, alle Punkte, uͤber die, wie er unterweges gemerkt hatte, Sebaldus anderer Meinung war, und hielt ſich bey allgemeinen aſcetiſchen Betrachtungen auf, die der Bauerfamilie begreiflich ſchienen, und beym Sebal- dus gleichfoͤrmige Gedanken erregten, mit denen er ſich ſehr zufrieden zur Ruhe legte. Den Morgen fruͤh, nach eingenommenem reich- lichem Fruͤhſtuͤck, dankten ſie ihrer Wohlthaͤterinn, und ſetzten ihren Weg weiter fort. Sebaldus ge- noß den ſchoͤnen Morgen, ſang ein froͤhliches Morgen- lied, und war ſo innig vergnuͤgt, daß er gar nicht daran dachte, wie mißlich ſein Zuſtand war, und welchen Zweck die Reiſe, auf der er itzt eben begriffen war, haben koͤnnte, bis ſein Reiſegefaͤhrte ſelbſt das Geſpraͤch auf Berlin brachte, wohin ſie giengen. Dieſer beſeufzete, mit auf die linke Achſel geſenktem Haupte, und gen Himmel erhabenen Augen, das Elend dieſer großen Stadt, wo, wie er verficherte, die Religion ein B 4

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Zitationshilfe: Nicolai, Friedrich: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Bd. 2. Berlin u. a., 1775, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nicolai_nothanker02_1775/23>, abgerufen am 28.03.2024.