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Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812.

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Schriften, besonders der tyrrhenischen Geschichte, des un-
glücklichen gemüthskranken Fürsten nicht eben so sehr
als den der herrlichsten Meisterwerke zu beklagen; ob-
wohl man auch denen verzeihen muß, die, für die Ge-
schichte ganz verschwundener Zeiten gleichgültig, Bü-
cher untergehen ließen die ohne Zweifel eben so sehr als
jene Rede die Geisteskrankheit ihres Verfassers ver-
riethen.

Claudius beginnt vom Ursprung der Stadt herzu-
zählen wie oft die Verfassung geändert, wie das Bür-
gerrecht und die Souverainetät ausgedehnt, und wie
schon die Königswürde auch Fremden mitgetheilt sey.
Nachdem er nun die gewöhnliche Erzählung von Ser-
vius Tullius niedriger Geburt wiederholt hat, fährt er
fort: Also sagen unsere Annalen; folgen wir aber den
Etruskern so war er der treuste Gefährte des Cäles
Vibenna, und theilte alle seine Schicksale. Zuletzt,
durch mancherley Unglück überwältigt, räumte er Etru-
rien mit den Ueberresten des cälianischen Heers, zog
nach Rom, und nahm dort den Berg Cälius ein, den
er nach seinem ehemaligen Feldherrn benannte. Er
selbst vertauschte den tuskischen Nahmen Mastarna mit
dem römischen, erlangte die Königswürde, und beklei-
dete sie für den Staat höchst ersprießlich.

Ich zweifle kaum daß dieses wahre Geschichte ist:
wir können sie aber nicht aufnehmen weil sie die Ein-
heit der Gedichte von der Königszeit zerreißt. Wenn
wir aber in Servius den Anführer eines in sich ver-
bundenen Heers sehen, welches zu Rom, vielleicht un-

Schriften, beſonders der tyrrheniſchen Geſchichte, des un-
gluͤcklichen gemuͤthskranken Fuͤrſten nicht eben ſo ſehr
als den der herrlichſten Meiſterwerke zu beklagen; ob-
wohl man auch denen verzeihen muß, die, fuͤr die Ge-
ſchichte ganz verſchwundener Zeiten gleichguͤltig, Buͤ-
cher untergehen ließen die ohne Zweifel eben ſo ſehr als
jene Rede die Geiſteskrankheit ihres Verfaſſers ver-
riethen.

Claudius beginnt vom Urſprung der Stadt herzu-
zaͤhlen wie oft die Verfaſſung geaͤndert, wie das Buͤr-
gerrecht und die Souverainetaͤt ausgedehnt, und wie
ſchon die Koͤnigswuͤrde auch Fremden mitgetheilt ſey.
Nachdem er nun die gewoͤhnliche Erzaͤhlung von Ser-
vius Tullius niedriger Geburt wiederholt hat, faͤhrt er
fort: Alſo ſagen unſere Annalen; folgen wir aber den
Etruſkern ſo war er der treuſte Gefaͤhrte des Caͤles
Vibenna, und theilte alle ſeine Schickſale. Zuletzt,
durch mancherley Ungluͤck uͤberwaͤltigt, raͤumte er Etru-
rien mit den Ueberreſten des caͤlianiſchen Heers, zog
nach Rom, und nahm dort den Berg Caͤlius ein, den
er nach ſeinem ehemaligen Feldherrn benannte. Er
ſelbſt vertauſchte den tuſkiſchen Nahmen Maſtarna mit
dem roͤmiſchen, erlangte die Koͤnigswuͤrde, und beklei-
dete ſie fuͤr den Staat hoͤchſt erſprießlich.

Ich zweifle kaum daß dieſes wahre Geſchichte iſt:
wir koͤnnen ſie aber nicht aufnehmen weil ſie die Ein-
heit der Gedichte von der Koͤnigszeit zerreißt. Wenn
wir aber in Servius den Anfuͤhrer eines in ſich ver-
bundenen Heers ſehen, welches zu Rom, vielleicht un-

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[530/0546] Schriften, beſonders der tyrrheniſchen Geſchichte, des un- gluͤcklichen gemuͤthskranken Fuͤrſten nicht eben ſo ſehr als den der herrlichſten Meiſterwerke zu beklagen; ob- wohl man auch denen verzeihen muß, die, fuͤr die Ge- ſchichte ganz verſchwundener Zeiten gleichguͤltig, Buͤ- cher untergehen ließen die ohne Zweifel eben ſo ſehr als jene Rede die Geiſteskrankheit ihres Verfaſſers ver- riethen. Claudius beginnt vom Urſprung der Stadt herzu- zaͤhlen wie oft die Verfaſſung geaͤndert, wie das Buͤr- gerrecht und die Souverainetaͤt ausgedehnt, und wie ſchon die Koͤnigswuͤrde auch Fremden mitgetheilt ſey. Nachdem er nun die gewoͤhnliche Erzaͤhlung von Ser- vius Tullius niedriger Geburt wiederholt hat, faͤhrt er fort: Alſo ſagen unſere Annalen; folgen wir aber den Etruſkern ſo war er der treuſte Gefaͤhrte des Caͤles Vibenna, und theilte alle ſeine Schickſale. Zuletzt, durch mancherley Ungluͤck uͤberwaͤltigt, raͤumte er Etru- rien mit den Ueberreſten des caͤlianiſchen Heers, zog nach Rom, und nahm dort den Berg Caͤlius ein, den er nach ſeinem ehemaligen Feldherrn benannte. Er ſelbſt vertauſchte den tuſkiſchen Nahmen Maſtarna mit dem roͤmiſchen, erlangte die Koͤnigswuͤrde, und beklei- dete ſie fuͤr den Staat hoͤchſt erſprießlich. Ich zweifle kaum daß dieſes wahre Geſchichte iſt: wir koͤnnen ſie aber nicht aufnehmen weil ſie die Ein- heit der Gedichte von der Koͤnigszeit zerreißt. Wenn wir aber in Servius den Anfuͤhrer eines in ſich ver- bundenen Heers ſehen, welches zu Rom, vielleicht un-

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Zitationshilfe: Niebuhr, Barthold Georg: Römische Geschichte. T. 2. Berlin, 1812, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niebuhr_roemische02_1812/546>, abgerufen am 19.04.2024.