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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

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Von d. Grunds. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
immer jene Erfahrung als Gegenbeweis gegen die über-
triebne Besoxgniß anführen dürfte.

Allein, wir bedürfen nicht einmal jener Erfahrung
als Gegenbeweises, da das Argument selbst, was man
auch zu dessen wirklicher Begründung oder bloßer Aus-
schmückung vorbringe, schon auf den ersten Anblick sich
als eine von den Uebertreibungen ankündiget, an denen
unser Zeitalter so reich ist, wo es auf neologische Ver-
folgung und Ausrottung einer alten, obgleich erprob-
ten, Gewohnheit oder Sitte ankömmt, die der Weich-
lichkeit der Zeit nicht gefällt.

Anstrengung des Geistes kann dem Körper nie
anders, als nur auf einem hohen Grade des Miß-
brauchs, nachtheilig seyn. Man darf sogar ohne Be-
denken behaupten, daß mehr Kinder durch zu frühe
körperliche Anstrengung zu Grunde gehen, als durch
geistige: so daß in Absicht auf die körperlich arbeitende
Volks-Classe die Schule, als Bewahrung vor allzu-
früher harter Arbeit, öfters zur Schonung der Gesund-
heit der Lehrlinge dient. Will man aber auch das Ge-
sundheitsargument nicht sowohl von dieser Seite geltend
machen, als vielmehr von der unmittelbar körperlichen;
wie man denn vorzüglich über Mangel an Bewegung,
freier Luft u. s. w. geschrieen hat: so ist doch auch an
all dem Geschrei nichts weiter, als daß man uns eine
an einigen Siechlingen gemachte Beobachtung als all-
gemeine Regel, und ungereimte Uebertreibungen hypo-
chondrischer Makrobiotiker als gründliche Beobachtung

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Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
immer jene Erfahrung als Gegenbeweis gegen die uͤber-
triebne Beſoxgniß anfuͤhren duͤrfte.

Allein, wir beduͤrfen nicht einmal jener Erfahrung
als Gegenbeweiſes, da das Argument ſelbſt, was man
auch zu deſſen wirklicher Begruͤndung oder bloßer Aus-
ſchmuͤckung vorbringe, ſchon auf den erſten Anblick ſich
als eine von den Uebertreibungen ankuͤndiget, an denen
unſer Zeitalter ſo reich iſt, wo es auf neologiſche Ver-
folgung und Ausrottung einer alten, obgleich erprob-
ten, Gewohnheit oder Sitte ankoͤmmt, die der Weich-
lichkeit der Zeit nicht gefaͤllt.

Anſtrengung des Geiſtes kann dem Koͤrper nie
anders, als nur auf einem hohen Grade des Miß-
brauchs, nachtheilig ſeyn. Man darf ſogar ohne Be-
denken behaupten, daß mehr Kinder durch zu fruͤhe
koͤrperliche Anſtrengung zu Grunde gehen, als durch
geiſtige: ſo daß in Abſicht auf die koͤrperlich arbeitende
Volks-Claſſe die Schule, als Bewahrung vor allzu-
fruͤher harter Arbeit, oͤfters zur Schonung der Geſund-
heit der Lehrlinge dient. Will man aber auch das Ge-
ſundheitsargument nicht ſowohl von dieſer Seite geltend
machen, als vielmehr von der unmittelbar koͤrperlichen;
wie man denn vorzuͤglich uͤber Mangel an Bewegung,
freier Luft u. ſ. w. geſchrieen hat: ſo iſt doch auch an
all dem Geſchrei nichts weiter, als daß man uns eine
an einigen Siechlingen gemachte Beobachtung als all-
gemeine Regel, und ungereimte Uebertreibungen hypo-
chondriſcher Makrobiotiker als gruͤndliche Beobachtung

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[241/0253] Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem. immer jene Erfahrung als Gegenbeweis gegen die uͤber- triebne Beſoxgniß anfuͤhren duͤrfte. Allein, wir beduͤrfen nicht einmal jener Erfahrung als Gegenbeweiſes, da das Argument ſelbſt, was man auch zu deſſen wirklicher Begruͤndung oder bloßer Aus- ſchmuͤckung vorbringe, ſchon auf den erſten Anblick ſich als eine von den Uebertreibungen ankuͤndiget, an denen unſer Zeitalter ſo reich iſt, wo es auf neologiſche Ver- folgung und Ausrottung einer alten, obgleich erprob- ten, Gewohnheit oder Sitte ankoͤmmt, die der Weich- lichkeit der Zeit nicht gefaͤllt. Anſtrengung des Geiſtes kann dem Koͤrper nie anders, als nur auf einem hohen Grade des Miß- brauchs, nachtheilig ſeyn. Man darf ſogar ohne Be- denken behaupten, daß mehr Kinder durch zu fruͤhe koͤrperliche Anſtrengung zu Grunde gehen, als durch geiſtige: ſo daß in Abſicht auf die koͤrperlich arbeitende Volks-Claſſe die Schule, als Bewahrung vor allzu- fruͤher harter Arbeit, oͤfters zur Schonung der Geſund- heit der Lehrlinge dient. Will man aber auch das Ge- ſundheitsargument nicht ſowohl von dieſer Seite geltend machen, als vielmehr von der unmittelbar koͤrperlichen; wie man denn vorzuͤglich uͤber Mangel an Bewegung, freier Luft u. ſ. w. geſchrieen hat: ſo iſt doch auch an all dem Geſchrei nichts weiter, als daß man uns eine an einigen Siechlingen gemachte Beobachtung als all- gemeine Regel, und ungereimte Uebertreibungen hypo- chondriſcher Makrobiotiker als gruͤndliche Beobachtung 16

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Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/253>, abgerufen am 29.04.2024.