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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

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Zweiter Abschnitt.
allgemein: was in den Umfang des Erziehungsunter-
richts gehöre? sondern sie verwandelt sich in die beson-
dre Frage: was der Erziehungsunterricht, wenn er
höchstens bis zum zwölften Lebensjahr des Zöglings
fortgeführt werden kann, alles aufzunehmen und zu
leisten vermöge? Muß man diese Gränze der Erzie-
hungsperiode als durch Noth oder Gesetz bestimmt gel-
ten lassen, so kann zwar bessere Methode, Fähigkeit
und Fleiß der Lehrer und der Schüler noch einigen Un-
terschied in der Ausdehnung des Unterrichts begründen;
doch hat dies in dem allgemeinen Naturgesetze der Ent-
wickelung des Geistes seine Gränze, und man kann
nicht eine Ausdehnung ins Unendliche annehmen: als
Regel aber läßt sich wohl behaupten, daß selbst unter
den günstigsten Umständen vor dem zwölften Lebensjahre
die Vernunftbildung den Grad der Vollendung schwer-
lich schon erreicht haben könne, daß ihrer unbeschadet
auch noch allerlei anderes mit dem Lehrling nach Ge-
fallen betrieben werden könne; vielmehr ist es in der
Regel sicher zu früh, die Periode der Erziehung schon
mit dem zwölften Lebensjahre zu schließen, und der Ge-
setzgeber muß die Noth überwiegend finden, um eine
solche Abkürzung der Erziehungsperiode im Allgemeinen
zu gestatten. Ist dies aber unveränderlich bestimmt,
so muß man die gegebne Zeit nur um so sorgsamer
zu Rathe halten.

Ich kann den Streit der beiden Extreme über die-
sen Punkt nicht treffender erläutern, als durch Ver-
gleichung mit einer wohlgeordneten Staatsökonomie, in

Zweiter Abſchnitt.
allgemein: was in den Umfang des Erziehungsunter-
richts gehoͤre? ſondern ſie verwandelt ſich in die beſon-
dre Frage: was der Erziehungsunterricht, wenn er
hoͤchſtens bis zum zwoͤlften Lebensjahr des Zoͤglings
fortgefuͤhrt werden kann, alles aufzunehmen und zu
leiſten vermoͤge? Muß man dieſe Graͤnze der Erzie-
hungsperiode als durch Noth oder Geſetz beſtimmt gel-
ten laſſen, ſo kann zwar beſſere Methode, Faͤhigkeit
und Fleiß der Lehrer und der Schuͤler noch einigen Un-
terſchied in der Ausdehnung des Unterrichts begruͤnden;
doch hat dies in dem allgemeinen Naturgeſetze der Ent-
wickelung des Geiſtes ſeine Graͤnze, und man kann
nicht eine Ausdehnung ins Unendliche annehmen: als
Regel aber laͤßt ſich wohl behaupten, daß ſelbſt unter
den guͤnſtigſten Umſtaͤnden vor dem zwoͤlften Lebensjahre
die Vernunftbildung den Grad der Vollendung ſchwer-
lich ſchon erreicht haben koͤnne, daß ihrer unbeſchadet
auch noch allerlei anderes mit dem Lehrling nach Ge-
fallen betrieben werden koͤnne; vielmehr iſt es in der
Regel ſicher zu fruͤh, die Periode der Erziehung ſchon
mit dem zwoͤlften Lebensjahre zu ſchließen, und der Ge-
ſetzgeber muß die Noth uͤberwiegend finden, um eine
ſolche Abkuͤrzung der Erziehungsperiode im Allgemeinen
zu geſtatten. Iſt dies aber unveraͤnderlich beſtimmt,
ſo muß man die gegebne Zeit nur um ſo ſorgſamer
zu Rathe halten.

Ich kann den Streit der beiden Extreme uͤber die-
ſen Punkt nicht treffender erlaͤutern, als durch Ver-
gleichung mit einer wohlgeordneten Staatsoͤkonomie, in

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[64/0076] Zweiter Abſchnitt. allgemein: was in den Umfang des Erziehungsunter- richts gehoͤre? ſondern ſie verwandelt ſich in die beſon- dre Frage: was der Erziehungsunterricht, wenn er hoͤchſtens bis zum zwoͤlften Lebensjahr des Zoͤglings fortgefuͤhrt werden kann, alles aufzunehmen und zu leiſten vermoͤge? Muß man dieſe Graͤnze der Erzie- hungsperiode als durch Noth oder Geſetz beſtimmt gel- ten laſſen, ſo kann zwar beſſere Methode, Faͤhigkeit und Fleiß der Lehrer und der Schuͤler noch einigen Un- terſchied in der Ausdehnung des Unterrichts begruͤnden; doch hat dies in dem allgemeinen Naturgeſetze der Ent- wickelung des Geiſtes ſeine Graͤnze, und man kann nicht eine Ausdehnung ins Unendliche annehmen: als Regel aber laͤßt ſich wohl behaupten, daß ſelbſt unter den guͤnſtigſten Umſtaͤnden vor dem zwoͤlften Lebensjahre die Vernunftbildung den Grad der Vollendung ſchwer- lich ſchon erreicht haben koͤnne, daß ihrer unbeſchadet auch noch allerlei anderes mit dem Lehrling nach Ge- fallen betrieben werden koͤnne; vielmehr iſt es in der Regel ſicher zu fruͤh, die Periode der Erziehung ſchon mit dem zwoͤlften Lebensjahre zu ſchließen, und der Ge- ſetzgeber muß die Noth uͤberwiegend finden, um eine ſolche Abkuͤrzung der Erziehungsperiode im Allgemeinen zu geſtatten. Iſt dies aber unveraͤnderlich beſtimmt, ſo muß man die gegebne Zeit nur um ſo ſorgſamer zu Rathe halten. Ich kann den Streit der beiden Extreme uͤber die- ſen Punkt nicht treffender erlaͤutern, als durch Ver- gleichung mit einer wohlgeordneten Staatsoͤkonomie, in

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Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/76>, abgerufen am 26.04.2024.