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Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808.

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Zweiter Abschnitt.
daß die wahre Ansicht nicht durch bloßes Aneinander-
knüpfen der beiden Gegensätze gefunden werden kann,
sondern nur indem man beide als einander wechselseitig
durchdringend und bestimmend denkt.

In der Thierheit läßt sich der Begriff von
Bestimmung des Menschen nicht suchen, da die
Thierheit in dem Menschen nicht von der Vernunft
isolirt gedacht werden kann, durch die Verbindung mit
der letztern aber nicht nur (negativ) aufhört reine
Thierheit zu seyn, sondern auch (positiv) etwas ande-
res wird. Es darf nämlich ja nicht übersehen werden,
daß der Vorzug, den der Mensch durch jene Verbin-
dung der Vernunft mit der Thierheit in ihm vor dem
Thiere voraus hat, nicht bloß in dem sinnlichen
Bewußtseyn
seines thierischen Lebens besteht, son-
dern in dem geistigen Bewußtseyn von seiner
animalen Natur; in welchem Bewußtseyn der Mensch
selbst seine Thierheit über die Thierheit erhoben erblickt,
so daß er sogar im thierischen Genusse Vernunft bleibt,
und einen höhern Zweck desselben sieht, und in allen
Arten von Genuß Geist sucht und fordert, nicht etwa
nur zu Erhöhung der Luft den Genuß zu würzen, son-
dern ihn zu weihen, und ihn seiner würdig zu machen;
wie man im Gegentheil von dem, der die rohe sinnli-
che Lust sucht, allgemein den Ausdruck braucht: daß
er sich zum Thier erniedrige. Verkennt man
nur diese Umwandlung der animalen Natur des Men-
schen nicht, welche die Verbindung mit Vernunft in
ihr hervorbringt, so muß man auch erkennen, daß der

Zweiter Abſchnitt.
daß die wahre Anſicht nicht durch bloßes Aneinander-
knuͤpfen der beiden Gegenſaͤtze gefunden werden kann,
ſondern nur indem man beide als einander wechſelſeitig
durchdringend und beſtimmend denkt.

In der Thierheit laͤßt ſich der Begriff von
Beſtimmung des Menſchen nicht ſuchen, da die
Thierheit in dem Menſchen nicht von der Vernunft
iſolirt gedacht werden kann, durch die Verbindung mit
der letztern aber nicht nur (negativ) aufhoͤrt reine
Thierheit zu ſeyn, ſondern auch (poſitiv) etwas ande-
res wird. Es darf naͤmlich ja nicht uͤberſehen werden,
daß der Vorzug, den der Menſch durch jene Verbin-
dung der Vernunft mit der Thierheit in ihm vor dem
Thiere voraus hat, nicht bloß in dem ſinnlichen
Bewußtſeyn
ſeines thieriſchen Lebens beſteht, ſon-
dern in dem geiſtigen Bewußtſeyn von ſeiner
animalen Natur; in welchem Bewußtſeyn der Menſch
ſelbſt ſeine Thierheit uͤber die Thierheit erhoben erblickt,
ſo daß er ſogar im thieriſchen Genuſſe Vernunft bleibt,
und einen hoͤhern Zweck deſſelben ſieht, und in allen
Arten von Genuß Geiſt ſucht und fordert, nicht etwa
nur zu Erhoͤhung der Luft den Genuß zu wuͤrzen, ſon-
dern ihn zu weihen, und ihn ſeiner wuͤrdig zu machen;
wie man im Gegentheil von dem, der die rohe ſinnli-
che Luſt ſucht, allgemein den Ausdruck braucht: daß
er ſich zum Thier erniedrige. Verkennt man
nur dieſe Umwandlung der animalen Natur des Men-
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ihr hervorbringt, ſo muß man auch erkennen, daß der

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[68/0080] Zweiter Abſchnitt. daß die wahre Anſicht nicht durch bloßes Aneinander- knuͤpfen der beiden Gegenſaͤtze gefunden werden kann, ſondern nur indem man beide als einander wechſelſeitig durchdringend und beſtimmend denkt. In der Thierheit laͤßt ſich der Begriff von Beſtimmung des Menſchen nicht ſuchen, da die Thierheit in dem Menſchen nicht von der Vernunft iſolirt gedacht werden kann, durch die Verbindung mit der letztern aber nicht nur (negativ) aufhoͤrt reine Thierheit zu ſeyn, ſondern auch (poſitiv) etwas ande- res wird. Es darf naͤmlich ja nicht uͤberſehen werden, daß der Vorzug, den der Menſch durch jene Verbin- dung der Vernunft mit der Thierheit in ihm vor dem Thiere voraus hat, nicht bloß in dem ſinnlichen Bewußtſeyn ſeines thieriſchen Lebens beſteht, ſon- dern in dem geiſtigen Bewußtſeyn von ſeiner animalen Natur; in welchem Bewußtſeyn der Menſch ſelbſt ſeine Thierheit uͤber die Thierheit erhoben erblickt, ſo daß er ſogar im thieriſchen Genuſſe Vernunft bleibt, und einen hoͤhern Zweck deſſelben ſieht, und in allen Arten von Genuß Geiſt ſucht und fordert, nicht etwa nur zu Erhoͤhung der Luft den Genuß zu wuͤrzen, ſon- dern ihn zu weihen, und ihn ſeiner wuͤrdig zu machen; wie man im Gegentheil von dem, der die rohe ſinnli- che Luſt ſucht, allgemein den Ausdruck braucht: daß er ſich zum Thier erniedrige. Verkennt man nur dieſe Umwandlung der animalen Natur des Men- ſchen nicht, welche die Verbindung mit Vernunft in ihr hervorbringt, ſo muß man auch erkennen, daß der

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Zitationshilfe: Niethammer, Friedrich Immanuel: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena, 1808, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/niethammer_philantropinismus_1808/80>, abgerufen am 19.04.2024.