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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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ästhetischen Principien als alle bildenden Künste und über¬
haupt nicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessen
sei: obgleich eine irrige Aesthetik, an der Hand einer miss¬
leiteten und entarteten Kunst, von jenem in der bildnerischen
Welt geltenden Begriff der Schönheit aus sich gewöhnt habe,
von der Musik eine ähnliche Wirkung wie von den Werken
der bildenden Kunst zu fordern, nämlich die Erregung des
Gefallens an schönen Formen
. Nach der Erkenntniss jenes
ungeheuren Gegensatzes fühlte ich eine starke Nöthigung,
mich dem Wesen der griechischen Tragödie und damit der
tiefsten Offenbarung des hellenischen Genius zu nahen; denn
erst jetzt glaubte ich des Zaubers mächtig zu sein, über die
Phraseologie unserer üblichen Aesthetik hinaus, das Urproblem
der Tragödie mir leibhaft vor die Seele stellen zu können:
wodurch mir ein so befremdlich eigenthümlicher Blick in das
Hellenische vergönnt war, dass es mir scheinen musste, als
ob unsre so stolz sich gebärdende classisch-hellenische
Wissenschaft in der Hauptsache bis jetzt nur an Schatten¬
spielen und Aeusserlichkeiten sich zu ernähren gewusst habe.

Jenes Urproblem möchten wir vielleicht mit dieser Frage
berühren: welche ästhetische Wirkung entsteht, wenn jene
an sich getrennten Kunstmächte des Apollinischen und des
Dionysischen neben einander in Thätigkeit gerathen? Oder
in kürzerer Form: wie verhält sich die Musik zu Bild und
Begriff? -- Schopenhauer, dem Richard Wagner gerade für
diesen Punkt eine nicht zu überbietende Deutlichkeit und
Durchsichtigkeit der Darstellung nachrühmt, äussert sich
hierüber am ausführlichsten in der folgenden Stelle, die ich
hier in ihrer ganzen Länge wiedergeben werde. Welt als
Wille und Vorstellung I p. 309: "Diesem allen zufolge
können wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und die
Musik als zwei verschiedene Ausdrücke derselben Sache an¬
sehen, welche selbst daher das allein Vermittelnde der Ana¬

ästhetischen Principien als alle bildenden Künste und über¬
haupt nicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessen
sei: obgleich eine irrige Aesthetik, an der Hand einer miss¬
leiteten und entarteten Kunst, von jenem in der bildnerischen
Welt geltenden Begriff der Schönheit aus sich gewöhnt habe,
von der Musik eine ähnliche Wirkung wie von den Werken
der bildenden Kunst zu fordern, nämlich die Erregung des
Gefallens an schönen Formen
. Nach der Erkenntniss jenes
ungeheuren Gegensatzes fühlte ich eine starke Nöthigung,
mich dem Wesen der griechischen Tragödie und damit der
tiefsten Offenbarung des hellenischen Genius zu nahen; denn
erst jetzt glaubte ich des Zaubers mächtig zu sein, über die
Phraseologie unserer üblichen Aesthetik hinaus, das Urproblem
der Tragödie mir leibhaft vor die Seele stellen zu können:
wodurch mir ein so befremdlich eigenthümlicher Blick in das
Hellenische vergönnt war, dass es mir scheinen musste, als
ob unsre so stolz sich gebärdende classisch-hellenische
Wissenschaft in der Hauptsache bis jetzt nur an Schatten¬
spielen und Aeusserlichkeiten sich zu ernähren gewusst habe.

Jenes Urproblem möchten wir vielleicht mit dieser Frage
berühren: welche ästhetische Wirkung entsteht, wenn jene
an sich getrennten Kunstmächte des Apollinischen und des
Dionysischen neben einander in Thätigkeit gerathen? Oder
in kürzerer Form: wie verhält sich die Musik zu Bild und
Begriff? — Schopenhauer, dem Richard Wagner gerade für
diesen Punkt eine nicht zu überbietende Deutlichkeit und
Durchsichtigkeit der Darstellung nachrühmt, äussert sich
hierüber am ausführlichsten in der folgenden Stelle, die ich
hier in ihrer ganzen Länge wiedergeben werde. Welt als
Wille und Vorstellung I p. 309: »Diesem allen zufolge
können wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und die
Musik als zwei verschiedene Ausdrücke derselben Sache an¬
sehen, welche selbst daher das allein Vermittelnde der Ana¬

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[—87—/0100] ästhetischen Principien als alle bildenden Künste und über¬ haupt nicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessen sei: obgleich eine irrige Aesthetik, an der Hand einer miss¬ leiteten und entarteten Kunst, von jenem in der bildnerischen Welt geltenden Begriff der Schönheit aus sich gewöhnt habe, von der Musik eine ähnliche Wirkung wie von den Werken der bildenden Kunst zu fordern, nämlich die Erregung des Gefallens an schönen Formen. Nach der Erkenntniss jenes ungeheuren Gegensatzes fühlte ich eine starke Nöthigung, mich dem Wesen der griechischen Tragödie und damit der tiefsten Offenbarung des hellenischen Genius zu nahen; denn erst jetzt glaubte ich des Zaubers mächtig zu sein, über die Phraseologie unserer üblichen Aesthetik hinaus, das Urproblem der Tragödie mir leibhaft vor die Seele stellen zu können: wodurch mir ein so befremdlich eigenthümlicher Blick in das Hellenische vergönnt war, dass es mir scheinen musste, als ob unsre so stolz sich gebärdende classisch-hellenische Wissenschaft in der Hauptsache bis jetzt nur an Schatten¬ spielen und Aeusserlichkeiten sich zu ernähren gewusst habe. Jenes Urproblem möchten wir vielleicht mit dieser Frage berühren: welche ästhetische Wirkung entsteht, wenn jene an sich getrennten Kunstmächte des Apollinischen und des Dionysischen neben einander in Thätigkeit gerathen? Oder in kürzerer Form: wie verhält sich die Musik zu Bild und Begriff? — Schopenhauer, dem Richard Wagner gerade für diesen Punkt eine nicht zu überbietende Deutlichkeit und Durchsichtigkeit der Darstellung nachrühmt, äussert sich hierüber am ausführlichsten in der folgenden Stelle, die ich hier in ihrer ganzen Länge wiedergeben werde. Welt als Wille und Vorstellung I p. 309: »Diesem allen zufolge können wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und die Musik als zwei verschiedene Ausdrücke derselben Sache an¬ sehen, welche selbst daher das allein Vermittelnde der Ana¬

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —87—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/100>, abgerufen am 19.04.2024.