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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit diony¬
sischer Weisheit zu reden beginnt und wo es sich selbst und
seine apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich
das schwierige Verhältniss des Apollinischen und des Diony¬
sischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gott¬
heiten zu symbolisiren: Dionysus redet die Sprache des Apollo,
Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus: womit
das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt
erreicht ist.

22.

Mag der aufmerksame Freund sich die Wirkung einer
wahren musikalischen Tragödie rein und unvermischt, nach
seinen Erfahrungen vergegenwärtigen. Ich denke das Phä¬
nomen dieser Wirkung nach beiden Seiten hin so beschrieben
zu haben, dass er sich seine eignen Erfahrungen jetzt zu
deuten wissen wird. Er wird sich nämlich erinnern, wie er,
im Hinblick auf den vor ihm sich bewegenden Mythus, zu
einer Art von Allwissenheit sich gesteigert fühlte, als ob jetzt
die Sehkraft seiner Augen nicht nur eine Flächenkraft sei,
sondern in's Innere zu dringen vermöge, und als ob er die
Wallungen des Willens, den Kampf der Motive, den an¬
schwellenden Strom der Leidenschaften, jetzt, mit Hülfe der
Musik, gleichsam sinnlich sichtbar, wie eine Fülle lebendig
bewegter Linien und Figuren vor sich sehe und damit bis
in die zartesten Geheimnisse unbewusster Regungen hinab¬
tauchen könne. Während er so einer höchsten Steigerung
seiner auf Sichtbarkeit und Verklärung gerichteten Triebe
bewusst wird, fühlt er doch eben so bestimmt, dass diese
lange Reihe apollinischer Kunstwirkungen doch nicht jenes
beglückte Verharren in willenlosem Anschauen erzeugt, das
der Plastiker und der epische Dichter, also die eigentlich

Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit diony¬
sischer Weisheit zu reden beginnt und wo es sich selbst und
seine apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich
das schwierige Verhältniss des Apollinischen und des Diony¬
sischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gott¬
heiten zu symbolisiren: Dionysus redet die Sprache des Apollo,
Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus: womit
das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt
erreicht ist.

22.

Mag der aufmerksame Freund sich die Wirkung einer
wahren musikalischen Tragödie rein und unvermischt, nach
seinen Erfahrungen vergegenwärtigen. Ich denke das Phä¬
nomen dieser Wirkung nach beiden Seiten hin so beschrieben
zu haben, dass er sich seine eignen Erfahrungen jetzt zu
deuten wissen wird. Er wird sich nämlich erinnern, wie er,
im Hinblick auf den vor ihm sich bewegenden Mythus, zu
einer Art von Allwissenheit sich gesteigert fühlte, als ob jetzt
die Sehkraft seiner Augen nicht nur eine Flächenkraft sei,
sondern in's Innere zu dringen vermöge, und als ob er die
Wallungen des Willens, den Kampf der Motive, den an¬
schwellenden Strom der Leidenschaften, jetzt, mit Hülfe der
Musik, gleichsam sinnlich sichtbar, wie eine Fülle lebendig
bewegter Linien und Figuren vor sich sehe und damit bis
in die zartesten Geheimnisse unbewusster Regungen hinab¬
tauchen könne. Während er so einer höchsten Steigerung
seiner auf Sichtbarkeit und Verklärung gerichteten Triebe
bewusst wird, fühlt er doch eben so bestimmt, dass diese
lange Reihe apollinischer Kunstwirkungen doch nicht jenes
beglückte Verharren in willenlosem Anschauen erzeugt, das
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[—126—/0139] Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit diony¬ sischer Weisheit zu reden beginnt und wo es sich selbst und seine apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich das schwierige Verhältniss des Apollinischen und des Diony¬ sischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gott¬ heiten zu symbolisiren: Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist. 22. Mag der aufmerksame Freund sich die Wirkung einer wahren musikalischen Tragödie rein und unvermischt, nach seinen Erfahrungen vergegenwärtigen. Ich denke das Phä¬ nomen dieser Wirkung nach beiden Seiten hin so beschrieben zu haben, dass er sich seine eignen Erfahrungen jetzt zu deuten wissen wird. Er wird sich nämlich erinnern, wie er, im Hinblick auf den vor ihm sich bewegenden Mythus, zu einer Art von Allwissenheit sich gesteigert fühlte, als ob jetzt die Sehkraft seiner Augen nicht nur eine Flächenkraft sei, sondern in's Innere zu dringen vermöge, und als ob er die Wallungen des Willens, den Kampf der Motive, den an¬ schwellenden Strom der Leidenschaften, jetzt, mit Hülfe der Musik, gleichsam sinnlich sichtbar, wie eine Fülle lebendig bewegter Linien und Figuren vor sich sehe und damit bis in die zartesten Geheimnisse unbewusster Regungen hinab¬ tauchen könne. Während er so einer höchsten Steigerung seiner auf Sichtbarkeit und Verklärung gerichteten Triebe bewusst wird, fühlt er doch eben so bestimmt, dass diese lange Reihe apollinischer Kunstwirkungen doch nicht jenes beglückte Verharren in willenlosem Anschauen erzeugt, das der Plastiker und der epische Dichter, also die eigentlich

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —126—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/139>, abgerufen am 28.03.2024.