Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist
in das reine Anschauen der Bilder versunken. Der diony¬
sische Musiker ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz
und Urwiederklang desselben. Der lyrische Genius fühlt aus
dem mystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande
eine Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen, die eine ganz
andere Färbung, Causalität und Schnelligkeit hat als jene
Welt des Plastikers und Epikers. Während der Letztge¬
nannte in diesen Bildern und nur in ihnen mit freudigem Be¬
hagen lebt und nicht müde wird, sie bis auf die kleinsten
Züge hin liebevoll anzuschauen, während selbst das Bild des
zürnenden Achilles für ihn nur ein Bild ist, dessen zürnenden
Ausdruck er mit jener Traumlust am Scheine geniesst -- so
dass er, durch diesen Spiegel des Scheines, gegen das Eins¬
werden und Zusammenschmelzen mit seinen Gestalten ge¬
schützt ist --. so sind dagegen die Bilder des Lyrikers nichts
als er selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen
von ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt
"ich" sagen darf: nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie
die des wachen, empirisch-realen Menschen, sondern die ein¬
zige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der
Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische
Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht. Nun
denken wir uns einmal, wie er unter diesen Abbildern auch
sich selbst als Nichtgenius erblickt d. h. sein "Subject", das
ganze Gewühl subjectiver, auf ein bestimmtes, ihm real dün¬
kendes Ding gerichteter Leidenschaften und Willensregungen;
wenn es jetzt scheint als ob der lyrische Genius und der mit
ihm verbundene Nichtgenius eins wäre und als ob der Erstere
von sich selbst jenes Wörtchen "ich" spräche, so wird uns
jetzt dieser Schein nicht mehr verführen können, wie er aller¬
dings diejenigen verführt hat, die den Lyriker als den sub¬
jectiven Dichter bezeichnet haben. In Wahrheit ist Archi¬

Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist
in das reine Anschauen der Bilder versunken. Der diony¬
sische Musiker ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz
und Urwiederklang desselben. Der lyrische Genius fühlt aus
dem mystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande
eine Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen, die eine ganz
andere Färbung, Causalität und Schnelligkeit hat als jene
Welt des Plastikers und Epikers. Während der Letztge¬
nannte in diesen Bildern und nur in ihnen mit freudigem Be¬
hagen lebt und nicht müde wird, sie bis auf die kleinsten
Züge hin liebevoll anzuschauen, während selbst das Bild des
zürnenden Achilles für ihn nur ein Bild ist, dessen zürnenden
Ausdruck er mit jener Traumlust am Scheine geniesst — so
dass er, durch diesen Spiegel des Scheines, gegen das Eins¬
werden und Zusammenschmelzen mit seinen Gestalten ge¬
schützt ist —. so sind dagegen die Bilder des Lyrikers nichts
als er selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen
von ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt
»ich« sagen darf: nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie
die des wachen, empirisch-realen Menschen, sondern die ein¬
zige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der
Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische
Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht. Nun
denken wir uns einmal, wie er unter diesen Abbildern auch
sich selbst als Nichtgenius erblickt d. h. sein »Subject«, das
ganze Gewühl subjectiver, auf ein bestimmtes, ihm real dün¬
kendes Ding gerichteter Leidenschaften und Willensregungen;
wenn es jetzt scheint als ob der lyrische Genius und der mit
ihm verbundene Nichtgenius eins wäre und als ob der Erstere
von sich selbst jenes Wörtchen »ich« spräche, so wird uns
jetzt dieser Schein nicht mehr verführen können, wie er aller¬
dings diejenigen verführt hat, die den Lyriker als den sub¬
jectiven Dichter bezeichnet haben. In Wahrheit ist Archi¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0035" n="&#x2014;22&#x2014;"/>
        <p>Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist<lb/>
in das reine Anschauen der Bilder versunken. Der diony¬<lb/>
sische Musiker ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz<lb/>
und Urwiederklang desselben. Der lyrische Genius fühlt aus<lb/>
dem mystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande<lb/>
eine Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen, die eine ganz<lb/>
andere Färbung, Causalität und Schnelligkeit hat als jene<lb/>
Welt des Plastikers und Epikers. Während der Letztge¬<lb/>
nannte in diesen Bildern und nur in ihnen mit freudigem Be¬<lb/>
hagen lebt und nicht müde wird, sie bis auf die kleinsten<lb/>
Züge hin liebevoll anzuschauen, während selbst das Bild des<lb/>
zürnenden Achilles für ihn nur ein Bild ist, dessen zürnenden<lb/>
Ausdruck er mit jener Traumlust am Scheine geniesst &#x2014; so<lb/>
dass er, durch diesen Spiegel des Scheines, gegen das Eins¬<lb/>
werden und Zusammenschmelzen mit seinen Gestalten ge¬<lb/>
schützt ist &#x2014;. so sind dagegen die Bilder des Lyrikers nichts<lb/>
als <hi rendition="#i">er</hi> selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen<lb/>
von ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt<lb/>
»ich« sagen darf: nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie<lb/>
die des wachen, empirisch-realen Menschen, sondern die ein¬<lb/>
zige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der<lb/>
Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische<lb/>
Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht. Nun<lb/>
denken wir uns einmal, wie er unter diesen Abbildern auch<lb/><hi rendition="#i">sich selbst</hi> als Nichtgenius erblickt d. h. sein »Subject«, das<lb/>
ganze Gewühl subjectiver, auf ein bestimmtes, ihm real dün¬<lb/>
kendes Ding gerichteter Leidenschaften und Willensregungen;<lb/>
wenn es jetzt scheint als ob der lyrische Genius und der mit<lb/>
ihm verbundene Nichtgenius eins wäre und als ob der Erstere<lb/>
von sich selbst jenes Wörtchen »ich« spräche, so wird uns<lb/>
jetzt dieser Schein nicht mehr verführen können, wie er aller¬<lb/>
dings diejenigen verführt hat, die den Lyriker als den sub¬<lb/>
jectiven Dichter bezeichnet haben. In Wahrheit ist Archi¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[—22—/0035] Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist in das reine Anschauen der Bilder versunken. Der diony¬ sische Musiker ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben. Der lyrische Genius fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande eine Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen, die eine ganz andere Färbung, Causalität und Schnelligkeit hat als jene Welt des Plastikers und Epikers. Während der Letztge¬ nannte in diesen Bildern und nur in ihnen mit freudigem Be¬ hagen lebt und nicht müde wird, sie bis auf die kleinsten Züge hin liebevoll anzuschauen, während selbst das Bild des zürnenden Achilles für ihn nur ein Bild ist, dessen zürnenden Ausdruck er mit jener Traumlust am Scheine geniesst — so dass er, durch diesen Spiegel des Scheines, gegen das Eins¬ werden und Zusammenschmelzen mit seinen Gestalten ge¬ schützt ist —. so sind dagegen die Bilder des Lyrikers nichts als er selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt »ich« sagen darf: nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie die des wachen, empirisch-realen Menschen, sondern die ein¬ zige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht. Nun denken wir uns einmal, wie er unter diesen Abbildern auch sich selbst als Nichtgenius erblickt d. h. sein »Subject«, das ganze Gewühl subjectiver, auf ein bestimmtes, ihm real dün¬ kendes Ding gerichteter Leidenschaften und Willensregungen; wenn es jetzt scheint als ob der lyrische Genius und der mit ihm verbundene Nichtgenius eins wäre und als ob der Erstere von sich selbst jenes Wörtchen »ich« spräche, so wird uns jetzt dieser Schein nicht mehr verführen können, wie er aller¬ dings diejenigen verführt hat, die den Lyriker als den sub¬ jectiven Dichter bezeichnet haben. In Wahrheit ist Archi¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/35
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —22—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/35>, abgerufen am 24.04.2024.