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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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denschaft und die Dialektik des Haupthelden zu einem breiten
und mächtigen Strome anschwoll. Zum Pathos, nicht zur
Handlung bereitete Alles vor: und was nicht zum Pathos
vorbereitete, das galt als verwerflich. Das aber, was die
genussvolle Hingabe an solche Scenen am stärksten erschwert,
ist ein dem Zuhörer fehlendes Glied, eine Lücke im Gewebe
der Vorgeschichte; so lange der Zuhörer noch ausrechnen
muss, was diese und jene Person bedeute, was dieser und
jener Conflict der Neigungen und Absichten für Voraus¬
setzungen habe, ist seine volle Versenkung in das Leiden
und Thun der Hauptpersonen, ist das athemlose Mitleiden
und Mitfürchten noch nicht möglich. Die äschyleisch-sopho¬
kleische Tragödie verwandte die geistreichsten Kunstmittel,
um dem Zuschauer in den ersten Scenen gewissermaassen
zufällig alle jene zum Verständniss nothwendigen Fäden in
die Hand zu geben: ein Zug, in dem sich jene edle Künst¬
lerschaft bewährt, die das nothwendige Formelle gleichsam
maskirt und als Zufälliges erscheinen lässt. Immerhin aber
glaubte Euripides zu bemerken, dass während jener ersten
Scenen der Zuschauer in eigentümlicher Unruhe sei, um das
Rechenexempel der Vorgeschichte auszurechnen, so dass die
dichterischen Schönheiten und das Pathos der Exposition für
ihn verloren ginge. Deshalb stellte er den Prolog noch vor
die Exposition und legte ihn einer Person in den Mund, der
man Vertrauen schenken durfte: eine Gottheit musste häufig
den Verlauf der Tragödie dem Publicum gewissermaassen
garantieren und jeden Zweifel an der Realität des Mythus
nehmen: in ähnlicher Weise, wie Descartes die Realität der
empirischen Welt nur durch die Appellation an die göttliche
Wahrhaftigkeit und Unfähigkeit zur Lüge zu beweisen ver¬
mochte. Dieselbe göttliche Wahrhaftigkeit braucht Euripides
noch einmal am Schlusse seines Drama's, um die Zukunft
seiner Helden dem Publicum sicher zu stellen; dies ist die

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denschaft und die Dialektik des Haupthelden zu einem breiten
und mächtigen Strome anschwoll. Zum Pathos, nicht zur
Handlung bereitete Alles vor: und was nicht zum Pathos
vorbereitete, das galt als verwerflich. Das aber, was die
genussvolle Hingabe an solche Scenen am stärksten erschwert,
ist ein dem Zuhörer fehlendes Glied, eine Lücke im Gewebe
der Vorgeschichte; so lange der Zuhörer noch ausrechnen
muss, was diese und jene Person bedeute, was dieser und
jener Conflict der Neigungen und Absichten für Voraus¬
setzungen habe, ist seine volle Versenkung in das Leiden
und Thun der Hauptpersonen, ist das athemlose Mitleiden
und Mitfürchten noch nicht möglich. Die äschyleisch-sopho¬
kleische Tragödie verwandte die geistreichsten Kunstmittel,
um dem Zuschauer in den ersten Scenen gewissermaassen
zufällig alle jene zum Verständniss nothwendigen Fäden in
die Hand zu geben: ein Zug, in dem sich jene edle Künst¬
lerschaft bewährt, die das nothwendige Formelle gleichsam
maskirt und als Zufälliges erscheinen lässt. Immerhin aber
glaubte Euripides zu bemerken, dass während jener ersten
Scenen der Zuschauer in eigentümlicher Unruhe sei, um das
Rechenexempel der Vorgeschichte auszurechnen, so dass die
dichterischen Schönheiten und das Pathos der Exposition für
ihn verloren ginge. Deshalb stellte er den Prolog noch vor
die Exposition und legte ihn einer Person in den Mund, der
man Vertrauen schenken durfte: eine Gottheit musste häufig
den Verlauf der Tragödie dem Publicum gewissermaassen
garantieren und jeden Zweifel an der Realität des Mythus
nehmen: in ähnlicher Weise, wie Descartes die Realität der
empirischen Welt nur durch die Appellation an die göttliche
Wahrhaftigkeit und Unfähigkeit zur Lüge zu beweisen ver¬
mochte. Dieselbe göttliche Wahrhaftigkeit braucht Euripides
noch einmal am Schlusse seines Drama's, um die Zukunft
seiner Helden dem Publicum sicher zu stellen; dies ist die

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[—67—/0080] denschaft und die Dialektik des Haupthelden zu einem breiten und mächtigen Strome anschwoll. Zum Pathos, nicht zur Handlung bereitete Alles vor: und was nicht zum Pathos vorbereitete, das galt als verwerflich. Das aber, was die genussvolle Hingabe an solche Scenen am stärksten erschwert, ist ein dem Zuhörer fehlendes Glied, eine Lücke im Gewebe der Vorgeschichte; so lange der Zuhörer noch ausrechnen muss, was diese und jene Person bedeute, was dieser und jener Conflict der Neigungen und Absichten für Voraus¬ setzungen habe, ist seine volle Versenkung in das Leiden und Thun der Hauptpersonen, ist das athemlose Mitleiden und Mitfürchten noch nicht möglich. Die äschyleisch-sopho¬ kleische Tragödie verwandte die geistreichsten Kunstmittel, um dem Zuschauer in den ersten Scenen gewissermaassen zufällig alle jene zum Verständniss nothwendigen Fäden in die Hand zu geben: ein Zug, in dem sich jene edle Künst¬ lerschaft bewährt, die das nothwendige Formelle gleichsam maskirt und als Zufälliges erscheinen lässt. Immerhin aber glaubte Euripides zu bemerken, dass während jener ersten Scenen der Zuschauer in eigentümlicher Unruhe sei, um das Rechenexempel der Vorgeschichte auszurechnen, so dass die dichterischen Schönheiten und das Pathos der Exposition für ihn verloren ginge. Deshalb stellte er den Prolog noch vor die Exposition und legte ihn einer Person in den Mund, der man Vertrauen schenken durfte: eine Gottheit musste häufig den Verlauf der Tragödie dem Publicum gewissermaassen garantieren und jeden Zweifel an der Realität des Mythus nehmen: in ähnlicher Weise, wie Descartes die Realität der empirischen Welt nur durch die Appellation an die göttliche Wahrhaftigkeit und Unfähigkeit zur Lüge zu beweisen ver¬ mochte. Dieselbe göttliche Wahrhaftigkeit braucht Euripides noch einmal am Schlusse seines Drama's, um die Zukunft seiner Helden dem Publicum sicher zu stellen; dies ist die 5*

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —67—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/80>, abgerufen am 25.04.2024.