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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Dichtern und Künstlern vorsprechend, überall die Einbildung
des Wissens antraf. Mit Staunen erkannte er, dass alle
jene Berühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne richtige und
sichere Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben.
"Nur aus Instinct": mit diesem Ausdruck berühren wir Herz
und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz. Mit ihm ver¬
urtheilt der Sokratismus eben so die bestehende Kunst wie
die bestehende Ethik: wohin er seine prüfenden Blicke
richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht
des Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche
Verkehrtheit und Verwerflichkeit des Vorhandenen. Von
diesem einen Punkte aus glaubte Sokrates das Dasein corri¬
gieren zu müssen: er, der Einzelne, tritt mit der Miene der
Nichtachtung und der Ueberlegenheit, als der Vorläufer einer
ganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral, in eine Welt
hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum
grössten Glücke rechnen würden.

Dies ist die ungeheuere Bedenklichkeit, die uns jedes¬
mal, Angesichts des Sokrates, ergreift und die uns immer
und immer wieder anreizt, Sinn und Absicht dieser frag¬
würdigsten Erscheinung des Alterthums zu erkennen. Wer
ist das, der es wagen darf, als ein Einzelner das griechische
Wesen zu verneinen, das als Homer, Pindar und Aeschylus,
als Phidias, als Perikles, als Pythia und Dionysus, als der
tiefste Abgrund und die höchste Höhe unserer staunenden
Anbetung gewiss ist? Welche dämonische Kraft ist es, die
diesen Zaubertrank in den Staub zu schütten sich erkühnen
darf? Welcher Halbgott ist es, dem der Geisterchor der
Edelsten der Menschheit zurufen muss : "Weh ! Weh ! Du
hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust; sie
stürzt, sie zerfällt!"

Einen Schlüssel zu dem Wesen des Sokrates bietet uns
jene wunderbare Erscheinung, die als "Dämonion des Sokrates"

Dichtern und Künstlern vorsprechend, überall die Einbildung
des Wissens antraf. Mit Staunen erkannte er, dass alle
jene Berühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne richtige und
sichere Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben.
»Nur aus Instinct«: mit diesem Ausdruck berühren wir Herz
und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz. Mit ihm ver¬
urtheilt der Sokratismus eben so die bestehende Kunst wie
die bestehende Ethik: wohin er seine prüfenden Blicke
richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht
des Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche
Verkehrtheit und Verwerflichkeit des Vorhandenen. Von
diesem einen Punkte aus glaubte Sokrates das Dasein corri¬
gieren zu müssen: er, der Einzelne, tritt mit der Miene der
Nichtachtung und der Ueberlegenheit, als der Vorläufer einer
ganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral, in eine Welt
hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum
grössten Glücke rechnen würden.

Dies ist die ungeheuere Bedenklichkeit, die uns jedes¬
mal, Angesichts des Sokrates, ergreift und die uns immer
und immer wieder anreizt, Sinn und Absicht dieser frag¬
würdigsten Erscheinung des Alterthums zu erkennen. Wer
ist das, der es wagen darf, als ein Einzelner das griechische
Wesen zu verneinen, das als Homer, Pindar und Aeschylus,
als Phidias, als Perikles, als Pythia und Dionysus, als der
tiefste Abgrund und die höchste Höhe unserer staunenden
Anbetung gewiss ist? Welche dämonische Kraft ist es, die
diesen Zaubertrank in den Staub zu schütten sich erkühnen
darf? Welcher Halbgott ist es, dem der Geisterchor der
Edelsten der Menschheit zurufen muss : »Weh ! Weh ! Du
hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust; sie
stürzt, sie zerfällt!«

Einen Schlüssel zu dem Wesen des Sokrates bietet uns
jene wunderbare Erscheinung, die als »Dämonion des Sokrates«

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[—71—/0084] Dichtern und Künstlern vorsprechend, überall die Einbildung des Wissens antraf. Mit Staunen erkannte er, dass alle jene Berühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne richtige und sichere Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben. »Nur aus Instinct«: mit diesem Ausdruck berühren wir Herz und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz. Mit ihm ver¬ urtheilt der Sokratismus eben so die bestehende Kunst wie die bestehende Ethik: wohin er seine prüfenden Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht des Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit und Verwerflichkeit des Vorhandenen. Von diesem einen Punkte aus glaubte Sokrates das Dasein corri¬ gieren zu müssen: er, der Einzelne, tritt mit der Miene der Nichtachtung und der Ueberlegenheit, als der Vorläufer einer ganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral, in eine Welt hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum grössten Glücke rechnen würden. Dies ist die ungeheuere Bedenklichkeit, die uns jedes¬ mal, Angesichts des Sokrates, ergreift und die uns immer und immer wieder anreizt, Sinn und Absicht dieser frag¬ würdigsten Erscheinung des Alterthums zu erkennen. Wer ist das, der es wagen darf, als ein Einzelner das griechische Wesen zu verneinen, das als Homer, Pindar und Aeschylus, als Phidias, als Perikles, als Pythia und Dionysus, als der tiefste Abgrund und die höchste Höhe unserer staunenden Anbetung gewiss ist? Welche dämonische Kraft ist es, die diesen Zaubertrank in den Staub zu schütten sich erkühnen darf? Welcher Halbgott ist es, dem der Geisterchor der Edelsten der Menschheit zurufen muss : »Weh ! Weh ! Du hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust; sie stürzt, sie zerfällt!« Einen Schlüssel zu dem Wesen des Sokrates bietet uns jene wunderbare Erscheinung, die als »Dämonion des Sokrates«

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —71—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/84>, abgerufen am 25.04.2024.