Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

bezeichnet wird. In besonderen Lagen, in denen sein unge¬
heurer Verstand in's Schwanken gerieth, gewann er einen
festen Anhalt durch eine in solchen Momenten sich äussernde
göttliche Stimme. Diese Stimme mahnt, wenn sie kommt,
immer ab. Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser
gänzlich abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen
hier und da hindernd entgegenzutreten. Während doch bei
allen productiven Menschen der Instinct gerade die schöp¬
ferisch-affirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und
abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinct zum
Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer -- eine wahre Mon¬
strosität per defectum! Und zwar nehmen wir hier einen mon¬
strosen defectus jeder mystischen Anlage wahr, so dass So¬
krates als der specifische Nicht-Mystiker zu bezeichnen wäre,
in dem die logische Natur durch eine Superfötation eben
so excessiv entwickelt ist wie im Mystiker jene instinctive
Weisheit. Andrerseits aber war es jenem in Sokrates er¬
scheinenden logischen Triebe völlig versagt, sich gegen sich
selbst zu kehren; in diesem fessellosen Dahinströmen zeigt
er eine Naturgewalt, wie wir sie nur bei den allergrössten
instinctiven Kräften zu unsrer schaudervollen Ueberraschung
antreffen. Wer nur einen Hauch von jener göttlichen Naivetät
und Sicherheit der sokratischen Lebensrichtung aus den plato¬
nischen Schriften gespürt hat, der fühlt auch, wie das unge¬
heure Triebrad des logischen Sokratismus gleichsam hinter
Sokrates in Bewegung ist, und wie dies durch Sokrates wie
durch einen Schatten hindurch angeschaut werden muss.
Dass er aber selbst von diesem Verhältniss eine Ahnung
hatte, das drückt sich in dem würdevollen Ernste aus, mit
dem er seine göttliche Berufung überall und noch vor seinen
Richtern geltend machte. Ihn darin zu widerlegen war im
Grunde eben so unmöglich als seinen die Instincte auflösenden
Einfluss gut zu heissen. Bei diesem unlösbaren Conflicte

bezeichnet wird. In besonderen Lagen, in denen sein unge¬
heurer Verstand in's Schwanken gerieth, gewann er einen
festen Anhalt durch eine in solchen Momenten sich äussernde
göttliche Stimme. Diese Stimme mahnt, wenn sie kommt,
immer ab. Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser
gänzlich abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen
hier und da hindernd entgegenzutreten. Während doch bei
allen productiven Menschen der Instinct gerade die schöp¬
ferisch-affirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und
abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinct zum
Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer — eine wahre Mon¬
strosität per defectum! Und zwar nehmen wir hier einen mon¬
strosen defectus jeder mystischen Anlage wahr, so dass So¬
krates als der specifische Nicht-Mystiker zu bezeichnen wäre,
in dem die logische Natur durch eine Superfötation eben
so excessiv entwickelt ist wie im Mystiker jene instinctive
Weisheit. Andrerseits aber war es jenem in Sokrates er¬
scheinenden logischen Triebe völlig versagt, sich gegen sich
selbst zu kehren; in diesem fessellosen Dahinströmen zeigt
er eine Naturgewalt, wie wir sie nur bei den allergrössten
instinctiven Kräften zu unsrer schaudervollen Ueberraschung
antreffen. Wer nur einen Hauch von jener göttlichen Naivetät
und Sicherheit der sokratischen Lebensrichtung aus den plato¬
nischen Schriften gespürt hat, der fühlt auch, wie das unge¬
heure Triebrad des logischen Sokratismus gleichsam hinter
Sokrates in Bewegung ist, und wie dies durch Sokrates wie
durch einen Schatten hindurch angeschaut werden muss.
Dass er aber selbst von diesem Verhältniss eine Ahnung
hatte, das drückt sich in dem würdevollen Ernste aus, mit
dem er seine göttliche Berufung überall und noch vor seinen
Richtern geltend machte. Ihn darin zu widerlegen war im
Grunde eben so unmöglich als seinen die Instincte auflösenden
Einfluss gut zu heissen. Bei diesem unlösbaren Conflicte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0085" n="&#x2014;72&#x2014;"/>
bezeichnet wird. In besonderen Lagen, in denen sein unge¬<lb/>
heurer Verstand in's Schwanken gerieth, gewann er einen<lb/>
festen Anhalt durch eine in solchen Momenten sich äussernde<lb/>
göttliche Stimme. Diese Stimme <hi rendition="#i">mahnt</hi>, wenn sie kommt,<lb/>
immer <hi rendition="#i">ab</hi>. Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser<lb/>
gänzlich abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen<lb/>
hier und da <hi rendition="#i">hindernd</hi> entgegenzutreten. Während doch bei<lb/>
allen productiven Menschen der Instinct gerade die schöp¬<lb/>
ferisch-affirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und<lb/>
abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinct zum<lb/>
Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer &#x2014; eine wahre Mon¬<lb/>
strosität per defectum! Und zwar nehmen wir hier einen mon¬<lb/>
strosen defectus jeder mystischen Anlage wahr, so dass So¬<lb/>
krates als der specifische <hi rendition="#i">Nicht-Mystiker</hi> zu bezeichnen wäre,<lb/>
in dem die logische Natur durch eine Superfötation eben<lb/>
so excessiv entwickelt ist wie im Mystiker jene instinctive<lb/>
Weisheit. Andrerseits aber war es jenem in Sokrates er¬<lb/>
scheinenden logischen Triebe völlig versagt, sich gegen sich<lb/>
selbst zu kehren; in diesem fessellosen Dahinströmen zeigt<lb/>
er eine Naturgewalt, wie wir sie nur bei den allergrössten<lb/>
instinctiven Kräften zu unsrer schaudervollen Ueberraschung<lb/>
antreffen. Wer nur einen Hauch von jener göttlichen Naivetät<lb/>
und Sicherheit der sokratischen Lebensrichtung aus den plato¬<lb/>
nischen Schriften gespürt hat, der fühlt auch, wie das unge¬<lb/>
heure Triebrad des logischen Sokratismus gleichsam <hi rendition="#i">hinter</hi><lb/>
Sokrates in Bewegung ist, und wie dies durch Sokrates wie<lb/>
durch einen Schatten hindurch angeschaut werden muss.<lb/>
Dass er aber selbst von diesem Verhältniss eine Ahnung<lb/>
hatte, das drückt sich in dem würdevollen Ernste aus, mit<lb/>
dem er seine göttliche Berufung überall und noch vor seinen<lb/>
Richtern geltend machte. Ihn darin zu widerlegen war im<lb/>
Grunde eben so unmöglich als seinen die Instincte auflösenden<lb/>
Einfluss gut zu heissen. Bei diesem unlösbaren Conflicte<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[—72—/0085] bezeichnet wird. In besonderen Lagen, in denen sein unge¬ heurer Verstand in's Schwanken gerieth, gewann er einen festen Anhalt durch eine in solchen Momenten sich äussernde göttliche Stimme. Diese Stimme mahnt, wenn sie kommt, immer ab. Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen hier und da hindernd entgegenzutreten. Während doch bei allen productiven Menschen der Instinct gerade die schöp¬ ferisch-affirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer — eine wahre Mon¬ strosität per defectum! Und zwar nehmen wir hier einen mon¬ strosen defectus jeder mystischen Anlage wahr, so dass So¬ krates als der specifische Nicht-Mystiker zu bezeichnen wäre, in dem die logische Natur durch eine Superfötation eben so excessiv entwickelt ist wie im Mystiker jene instinctive Weisheit. Andrerseits aber war es jenem in Sokrates er¬ scheinenden logischen Triebe völlig versagt, sich gegen sich selbst zu kehren; in diesem fessellosen Dahinströmen zeigt er eine Naturgewalt, wie wir sie nur bei den allergrössten instinctiven Kräften zu unsrer schaudervollen Ueberraschung antreffen. Wer nur einen Hauch von jener göttlichen Naivetät und Sicherheit der sokratischen Lebensrichtung aus den plato¬ nischen Schriften gespürt hat, der fühlt auch, wie das unge¬ heure Triebrad des logischen Sokratismus gleichsam hinter Sokrates in Bewegung ist, und wie dies durch Sokrates wie durch einen Schatten hindurch angeschaut werden muss. Dass er aber selbst von diesem Verhältniss eine Ahnung hatte, das drückt sich in dem würdevollen Ernste aus, mit dem er seine göttliche Berufung überall und noch vor seinen Richtern geltend machte. Ihn darin zu widerlegen war im Grunde eben so unmöglich als seinen die Instincte auflösenden Einfluss gut zu heissen. Bei diesem unlösbaren Conflicte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/85
Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —72—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/85>, abgerufen am 24.04.2024.