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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Gemüthsart widerstreben müsse, für reizbare und empfindliche
Seelen aber ein gefährlicher Zunder sei. Wir wissen, welche
einzige Gattung der Dichtkunst von ihm begriffen wurde,
die äsopische Fabel: und dies geschah gewiss mit jener
lächelnden Anbequemung, mit der der ehrliche gute Gellert
in der Fabel von der Biene und der Henne das Lob der
Poesie singt:

"Du siehst an mir, wozu sie nützt,
Dem, der nicht viel Verstand besitzt,
Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen".
Nun aber schien Sokrates die tragische Kunst nicht einmal
"die Wahrheit zu sagen": abgesehen davon, dass sie sich an
den wendet, der "nicht viel Verstand besitzt", also nicht an
den Philosophen: ein zweifacher Grund, von ihr fern zu
bleiben. Wie Plato, rechnete er sie zu den schmeichlerischen
Künsten, die nur das Angenehme, nicht das Nützliche dar¬
stellen und verlangte deshalb bei seinen Jüngern Enthaltsam¬
keit und strenge Absonderung von solchen unphilosophischen
Reizungen; mit solchem Erfolge, dass der jugendliche Tra¬
gödiendichter Plato zu allererst seine Dichtungen verbrannte,
um Schüler des Sokrates werden zu können. Wo aber
unbesiegbare Anlagen gegen die sokratischen Maximen an¬
kämpften, war die Kraft derselben, sammt der Wucht jenes
ungeheuren Charakters, immer noch gross genug, um die
Poesie selbst in neue und bis dahin unbekannte Stellungen
zu drängen.

Ein Beispiel dafür ist der eben genannte Plato: er, der
in der Verurtheilung der Tragödie und der Kunst überhaupt
gewiss nicht hinter dem naiven Cynismus seines Meisters zu¬
rückgeblieben ist, hat doch aus voller künstlerischer Noth¬
wendigkeit eine Kunstform schaffen müssen, die gerade mit
den vorhandenen und von ihm abgewiesenen Kunstformen
innerlich verwandt ist. Der Hauptvorwurf, den Plato der

Gemüthsart widerstreben müsse, für reizbare und empfindliche
Seelen aber ein gefährlicher Zunder sei. Wir wissen, welche
einzige Gattung der Dichtkunst von ihm begriffen wurde,
die äsopische Fabel: und dies geschah gewiss mit jener
lächelnden Anbequemung, mit der der ehrliche gute Gellert
in der Fabel von der Biene und der Henne das Lob der
Poesie singt:

»Du siehst an mir, wozu sie nützt,
Dem, der nicht viel Verstand besitzt,
Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen«.
Nun aber schien Sokrates die tragische Kunst nicht einmal
»die Wahrheit zu sagen«: abgesehen davon, dass sie sich an
den wendet, der »nicht viel Verstand besitzt«, also nicht an
den Philosophen: ein zweifacher Grund, von ihr fern zu
bleiben. Wie Plato, rechnete er sie zu den schmeichlerischen
Künsten, die nur das Angenehme, nicht das Nützliche dar¬
stellen und verlangte deshalb bei seinen Jüngern Enthaltsam¬
keit und strenge Absonderung von solchen unphilosophischen
Reizungen; mit solchem Erfolge, dass der jugendliche Tra¬
gödiendichter Plato zu allererst seine Dichtungen verbrannte,
um Schüler des Sokrates werden zu können. Wo aber
unbesiegbare Anlagen gegen die sokratischen Maximen an¬
kämpften, war die Kraft derselben, sammt der Wucht jenes
ungeheuren Charakters, immer noch gross genug, um die
Poesie selbst in neue und bis dahin unbekannte Stellungen
zu drängen.

Ein Beispiel dafür ist der eben genannte Plato: er, der
in der Verurtheilung der Tragödie und der Kunst überhaupt
gewiss nicht hinter dem naiven Cynismus seines Meisters zu¬
rückgeblieben ist, hat doch aus voller künstlerischer Noth¬
wendigkeit eine Kunstform schaffen müssen, die gerade mit
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[—74—/0087] Gemüthsart widerstreben müsse, für reizbare und empfindliche Seelen aber ein gefährlicher Zunder sei. Wir wissen, welche einzige Gattung der Dichtkunst von ihm begriffen wurde, die äsopische Fabel: und dies geschah gewiss mit jener lächelnden Anbequemung, mit der der ehrliche gute Gellert in der Fabel von der Biene und der Henne das Lob der Poesie singt: »Du siehst an mir, wozu sie nützt, Dem, der nicht viel Verstand besitzt, Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen«. Nun aber schien Sokrates die tragische Kunst nicht einmal »die Wahrheit zu sagen«: abgesehen davon, dass sie sich an den wendet, der »nicht viel Verstand besitzt«, also nicht an den Philosophen: ein zweifacher Grund, von ihr fern zu bleiben. Wie Plato, rechnete er sie zu den schmeichlerischen Künsten, die nur das Angenehme, nicht das Nützliche dar¬ stellen und verlangte deshalb bei seinen Jüngern Enthaltsam¬ keit und strenge Absonderung von solchen unphilosophischen Reizungen; mit solchem Erfolge, dass der jugendliche Tra¬ gödiendichter Plato zu allererst seine Dichtungen verbrannte, um Schüler des Sokrates werden zu können. Wo aber unbesiegbare Anlagen gegen die sokratischen Maximen an¬ kämpften, war die Kraft derselben, sammt der Wucht jenes ungeheuren Charakters, immer noch gross genug, um die Poesie selbst in neue und bis dahin unbekannte Stellungen zu drängen. Ein Beispiel dafür ist der eben genannte Plato: er, der in der Verurtheilung der Tragödie und der Kunst überhaupt gewiss nicht hinter dem naiven Cynismus seines Meisters zu¬ rückgeblieben ist, hat doch aus voller künstlerischer Noth¬ wendigkeit eine Kunstform schaffen müssen, die gerade mit den vorhandenen und von ihm abgewiesenen Kunstformen innerlich verwandt ist. Der Hauptvorwurf, den Plato der

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —74—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/87>, abgerufen am 19.04.2024.