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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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die allernächste Wirkung des sokratischen Triebes auf eine
Zersetzung der dionysischen Tragödie ausging, so zwingt uns
eine tiefsinnige Lebenserfahrung des Sokrates selbst zu der
Frage, ob denn zwischen dem Sokratismus und der Kunst
nothwendig nur ein antipodisches Verhältniss bestehe und ob
die Geburt eines "künstlerischen Sokrates" überhaupt etwas
in sich Widerspruchsvolles sei.

Jener despotische Logiker hatte nämlich hier und da der
Kunst gegenüber das Gefühl einer Lücke, einer Leere, eines
halben Vorwurfs, einer vielleicht versäumten Pflicht. Oefters
kam ihm, wie er im Gefängniss seinen Freunden erzählt,
ein und dieselbe Traumerscheinung, die immer dasselbe
sagte: "Sokrates, treibe Musik!" Er beruhigt sich bis zu
seinen letzten Tagen mit der Meinung, sein Philosophieren
sei die höchste Musenkunst, und glaubt nicht recht, dass eine
Gottheit ihn an jene "gemeine, populäre Musik" erinnern
werde. Endlich im Gefängniss versteht er sich, um sein Ge¬
wissen gänzlich zu entlasten, auch dazu, jene von ihm gering
geachtete Musik zu treiben. Und in dieser Gesinnung dich¬
tet er ein Proömium auf Apollo und bringt einige äsopische
Fabeln in Verse. Das war etwas der dämonischen warnen¬
den Stimme Aehnliches, das ihn zu diesen Uebungen drängte,
es war seine apollinische Einsicht, dass er wie ein Barbaren¬
könig ein edles Götterbild nicht verstehe und in der Gefahr
sei, sich an einer Gottheit zu versündigen -- durch sein
Nichtverstehn. Jenes Wort der sokratischen Traumerschei¬
nung ist das einzige Zeichen einer Bedenklichkeit über die
Grenzen der logischen Natur: vielleicht -- so musste er sich
fragen -- ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch so¬
fort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der
Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist
die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supple¬
ment der Wissenschaft?

die allernächste Wirkung des sokratischen Triebes auf eine
Zersetzung der dionysischen Tragödie ausging, so zwingt uns
eine tiefsinnige Lebenserfahrung des Sokrates selbst zu der
Frage, ob denn zwischen dem Sokratismus und der Kunst
nothwendig nur ein antipodisches Verhältniss bestehe und ob
die Geburt eines »künstlerischen Sokrates« überhaupt etwas
in sich Widerspruchsvolles sei.

Jener despotische Logiker hatte nämlich hier und da der
Kunst gegenüber das Gefühl einer Lücke, einer Leere, eines
halben Vorwurfs, einer vielleicht versäumten Pflicht. Oefters
kam ihm, wie er im Gefängniss seinen Freunden erzählt,
ein und dieselbe Traumerscheinung, die immer dasselbe
sagte: »Sokrates, treibe Musik!« Er beruhigt sich bis zu
seinen letzten Tagen mit der Meinung, sein Philosophieren
sei die höchste Musenkunst, und glaubt nicht recht, dass eine
Gottheit ihn an jene »gemeine, populäre Musik« erinnern
werde. Endlich im Gefängniss versteht er sich, um sein Ge¬
wissen gänzlich zu entlasten, auch dazu, jene von ihm gering
geachtete Musik zu treiben. Und in dieser Gesinnung dich¬
tet er ein Proömium auf Apollo und bringt einige äsopische
Fabeln in Verse. Das war etwas der dämonischen warnen¬
den Stimme Aehnliches, das ihn zu diesen Uebungen drängte,
es war seine apollinische Einsicht, dass er wie ein Barbaren¬
könig ein edles Götterbild nicht verstehe und in der Gefahr
sei, sich an einer Gottheit zu versündigen — durch sein
Nichtverstehn. Jenes Wort der sokratischen Traumerschei¬
nung ist das einzige Zeichen einer Bedenklichkeit über die
Grenzen der logischen Natur: vielleicht — so musste er sich
fragen — ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch so¬
fort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der
Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist
die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supple¬
ment der Wissenschaft?

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[—78—/0091] die allernächste Wirkung des sokratischen Triebes auf eine Zersetzung der dionysischen Tragödie ausging, so zwingt uns eine tiefsinnige Lebenserfahrung des Sokrates selbst zu der Frage, ob denn zwischen dem Sokratismus und der Kunst nothwendig nur ein antipodisches Verhältniss bestehe und ob die Geburt eines »künstlerischen Sokrates« überhaupt etwas in sich Widerspruchsvolles sei. Jener despotische Logiker hatte nämlich hier und da der Kunst gegenüber das Gefühl einer Lücke, einer Leere, eines halben Vorwurfs, einer vielleicht versäumten Pflicht. Oefters kam ihm, wie er im Gefängniss seinen Freunden erzählt, ein und dieselbe Traumerscheinung, die immer dasselbe sagte: »Sokrates, treibe Musik!« Er beruhigt sich bis zu seinen letzten Tagen mit der Meinung, sein Philosophieren sei die höchste Musenkunst, und glaubt nicht recht, dass eine Gottheit ihn an jene »gemeine, populäre Musik« erinnern werde. Endlich im Gefängniss versteht er sich, um sein Ge¬ wissen gänzlich zu entlasten, auch dazu, jene von ihm gering geachtete Musik zu treiben. Und in dieser Gesinnung dich¬ tet er ein Proömium auf Apollo und bringt einige äsopische Fabeln in Verse. Das war etwas der dämonischen warnen¬ den Stimme Aehnliches, das ihn zu diesen Uebungen drängte, es war seine apollinische Einsicht, dass er wie ein Barbaren¬ könig ein edles Götterbild nicht verstehe und in der Gefahr sei, sich an einer Gottheit zu versündigen — durch sein Nichtverstehn. Jenes Wort der sokratischen Traumerschei¬ nung ist das einzige Zeichen einer Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur: vielleicht — so musste er sich fragen — ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch so¬ fort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supple¬ ment der Wissenschaft?

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —78—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/91>, abgerufen am 24.04.2024.