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Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872.

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Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen
Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an
denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus schei¬
tert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat
unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzu¬
sehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden
könnte, so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch
vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche
Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare
starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die
Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und
endlich sich in den Schwanz beisst -- da bricht die neue
Form der Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die,
um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die
Kunst braucht.

Schauen wir, mit gestärkten und an den Griechen er¬
labten Augen, auf die höchsten Sphären derjenigen Welt, die
uns umfluthet, so gewahren wir die in Sokrates vorbildlich
erscheinende Gier der unersättlichen optimistischen Erkennt¬
niss in tragische Resignation und Kunstbedürftigkeit umge¬
schlagen: während allerdings dieselbe Gier, auf ihren niede¬
ren Stufen, sich kunstfeindlich äussern und vornehmlich die
dionysisch-tragische Kunst innerlich verabscheuen muss, wie
dies an der Bekämpfung der äschyleischen Tragödie durch
den Sokratismus beispielsweise dargestellt wurde.

Hier nun klopfen wir, bewegten Gemüthes, an die Pfor¬
ten der Gegenwart und Zukunft: wird jenes "Umschlagen"
zu immer neuen Configurationen des Genius und gerade des
musiktreibenden Sokrates führen? Wird das über das Dasein
gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen
der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter
geflochten werden oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos
barbarischen Treiben und Wirbeln, das sich jetzt "die Gegen¬

Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen
Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an
denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus schei¬
tert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat
unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzu¬
sehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden
könnte, so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch
vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche
Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare
starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die
Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und
endlich sich in den Schwanz beisst — da bricht die neue
Form der Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die,
um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die
Kunst braucht.

Schauen wir, mit gestärkten und an den Griechen er¬
labten Augen, auf die höchsten Sphären derjenigen Welt, die
uns umfluthet, so gewahren wir die in Sokrates vorbildlich
erscheinende Gier der unersättlichen optimistischen Erkennt¬
niss in tragische Resignation und Kunstbedürftigkeit umge¬
schlagen: während allerdings dieselbe Gier, auf ihren niede¬
ren Stufen, sich kunstfeindlich äussern und vornehmlich die
dionysisch-tragische Kunst innerlich verabscheuen muss, wie
dies an der Bekämpfung der äschyleischen Tragödie durch
den Sokratismus beispielsweise dargestellt wurde.

Hier nun klopfen wir, bewegten Gemüthes, an die Pfor¬
ten der Gegenwart und Zukunft: wird jenes »Umschlagen«
zu immer neuen Configurationen des Genius und gerade des
musiktreibenden Sokrates führen? Wird das über das Dasein
gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen
der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter
geflochten werden oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos
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[—84—/0097] Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus schei¬ tert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzu¬ sehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst — da bricht die neue Form der Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht. Schauen wir, mit gestärkten und an den Griechen er¬ labten Augen, auf die höchsten Sphären derjenigen Welt, die uns umfluthet, so gewahren wir die in Sokrates vorbildlich erscheinende Gier der unersättlichen optimistischen Erkennt¬ niss in tragische Resignation und Kunstbedürftigkeit umge¬ schlagen: während allerdings dieselbe Gier, auf ihren niede¬ ren Stufen, sich kunstfeindlich äussern und vornehmlich die dionysisch-tragische Kunst innerlich verabscheuen muss, wie dies an der Bekämpfung der äschyleischen Tragödie durch den Sokratismus beispielsweise dargestellt wurde. Hier nun klopfen wir, bewegten Gemüthes, an die Pfor¬ ten der Gegenwart und Zukunft: wird jenes »Umschlagen« zu immer neuen Configurationen des Genius und gerade des musiktreibenden Sokrates führen? Wird das über das Dasein gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter geflochten werden oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barbarischen Treiben und Wirbeln, das sich jetzt »die Gegen¬

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Leipzig, 1872, S. —84—. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_tragoedie_1872/97>, abgerufen am 28.03.2024.