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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Chemnitz, 1883.

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Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten
und Bösen; und was er auch redet, er lügt -- und
was er auch hat, gestohlen hat er's.

Falsch ist Alles an ihm; mit gestohlenen Zähnen
beisst er, der Bissige. Falsch sind selbst seine Ein¬
geweide.

Sprachverwirrung des Guten und Bösen: dieses
Zeichen gebe ich euch als Zeichen des Staates. Wahr¬
lich, den Willen zum Tode deutet dieses Zeichen!
Wahrlich, es winkt den Predigern des Todes!

Viel zu Viele werden geboren: für die Überflüs¬
sigen ward der Staat erfunden!

Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-
Vielen! Wie er sie schlingt und kaut und wiederkäut!

"Auf der Erde ist nichts Grösseres als ich: der
ordnende Finger bin ich Gottes" -- also brüllt das
Unthier. Und nicht nur Langgeohrte und Kurzgeäugte
sinken auf die Kniee!

Ach, auch in euch, ihr grossen Seelen, raunt er
seine düsteren Lügen! Ach, er erräth die reichen
Herzen, die gerne sich verschwenden!

Ja, auch euch erräth er, ihr Besieger des alten
Gottes! Müde wurdet ihr im Kampfe, und nun dient
eure Müdigkeit noch dem neuen Götzen!

Helden und Ehrenhafte möchte er um sich auf¬
stellen, der neue Götze! Gerne sonnt er sich im
Sonnenschein guter Gewissen, -- das kalte Unthier!

Alles will er euch geben, wenn ihr ihn anbetet,
der neue Götze: also kauft er sich den Glanz eurer
Tugend und den Blick eurer stolzen Augen.

Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten
und Bösen; und was er auch redet, er lügt — und
was er auch hat, gestohlen hat er's.

Falsch ist Alles an ihm; mit gestohlenen Zähnen
beisst er, der Bissige. Falsch sind selbst seine Ein¬
geweide.

Sprachverwirrung des Guten und Bösen: dieses
Zeichen gebe ich euch als Zeichen des Staates. Wahr¬
lich, den Willen zum Tode deutet dieses Zeichen!
Wahrlich, es winkt den Predigern des Todes!

Viel zu Viele werden geboren: für die Überflüs¬
sigen ward der Staat erfunden!

Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-
Vielen! Wie er sie schlingt und kaut und wiederkäut!

„Auf der Erde ist nichts Grösseres als ich: der
ordnende Finger bin ich Gottes“ — also brüllt das
Unthier. Und nicht nur Langgeohrte und Kurzgeäugte
sinken auf die Kniee!

Ach, auch in euch, ihr grossen Seelen, raunt er
seine düsteren Lügen! Ach, er erräth die reichen
Herzen, die gerne sich verschwenden!

Ja, auch euch erräth er, ihr Besieger des alten
Gottes! Müde wurdet ihr im Kampfe, und nun dient
eure Müdigkeit noch dem neuen Götzen!

Helden und Ehrenhafte möchte er um sich auf¬
stellen, der neue Götze! Gerne sonnt er sich im
Sonnenschein guter Gewissen, — das kalte Unthier!

Alles will er euch geben, wenn ihr ihn anbetet,
der neue Götze: also kauft er sich den Glanz eurer
Tugend und den Blick eurer stolzen Augen.

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[66/0072] Aber der Staat lügt in allen Zungen des Guten und Bösen; und was er auch redet, er lügt — und was er auch hat, gestohlen hat er's. Falsch ist Alles an ihm; mit gestohlenen Zähnen beisst er, der Bissige. Falsch sind selbst seine Ein¬ geweide. Sprachverwirrung des Guten und Bösen: dieses Zeichen gebe ich euch als Zeichen des Staates. Wahr¬ lich, den Willen zum Tode deutet dieses Zeichen! Wahrlich, es winkt den Predigern des Todes! Viel zu Viele werden geboren: für die Überflüs¬ sigen ward der Staat erfunden! Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu- Vielen! Wie er sie schlingt und kaut und wiederkäut! „Auf der Erde ist nichts Grösseres als ich: der ordnende Finger bin ich Gottes“ — also brüllt das Unthier. Und nicht nur Langgeohrte und Kurzgeäugte sinken auf die Kniee! Ach, auch in euch, ihr grossen Seelen, raunt er seine düsteren Lügen! Ach, er erräth die reichen Herzen, die gerne sich verschwenden! Ja, auch euch erräth er, ihr Besieger des alten Gottes! Müde wurdet ihr im Kampfe, und nun dient eure Müdigkeit noch dem neuen Götzen! Helden und Ehrenhafte möchte er um sich auf¬ stellen, der neue Götze! Gerne sonnt er sich im Sonnenschein guter Gewissen, — das kalte Unthier! Alles will er euch geben, wenn ihr ihn anbetet, der neue Götze: also kauft er sich den Glanz eurer Tugend und den Blick eurer stolzen Augen.

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. [Bd. 1]. Chemnitz, 1883, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra01_1883/72>, abgerufen am 18.04.2024.