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Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 2. Chemnitz, 1883.

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Das Grablied.


"Dort ist die Gräberinsel, die schweigsame; dort
sind auch die Gräber meiner Jugend. Dahin will ich
einen immergrünen Kranz des Lebens tragen."

Also im Herzen beschliessend fuhr ich über das
Meer. --

Oh ihr, meiner Jugend Gesichte und Erscheinungen!
Oh, ihr Blicke der Liebe alle, ihr göttlichen Augen¬
blicke! Wie starbt ihr mir so schnell! Ich gedenke
eurer heute wie meiner Todten.

Von euch her, meinen liebsten Todten, kommt mir
ein süsser Geruch, ein herz- und thränenlösender.
Wahrlich, er erschüttert und löst das Herz dem einsam
Schiffenden.

Immer noch bin ich der Reichste und Bestzu¬
beneidende -- ich der Einsamste! Denn ich hatte
euch doch, und ihr habt mich noch: sagt, wem fielen,
wie mir, solche Rosenäpfel vom Baume?

Immer noch bin ich eurer Liebe Erbe und Erd¬
reich, blühend zu eurem Gedächtnisse von bunten
wildwachsenen Tugenden, oh ihr Geliebtesten!

Ach, wir waren gemacht, einander nahe zu bleiben,
ihr holden fremden Wunder; und nicht schüchternen

Das Grablied.


„Dort ist die Gräberinsel, die schweigsame; dort
sind auch die Gräber meiner Jugend. Dahin will ich
einen immergrünen Kranz des Lebens tragen.“

Also im Herzen beschliessend fuhr ich über das
Meer. —

Oh ihr, meiner Jugend Gesichte und Erscheinungen!
Oh, ihr Blicke der Liebe alle, ihr göttlichen Augen¬
blicke! Wie starbt ihr mir so schnell! Ich gedenke
eurer heute wie meiner Todten.

Von euch her, meinen liebsten Todten, kommt mir
ein süsser Geruch, ein herz- und thränenlösender.
Wahrlich, er erschüttert und löst das Herz dem einsam
Schiffenden.

Immer noch bin ich der Reichste und Bestzu¬
beneidende — ich der Einsamste! Denn ich hatte
euch doch, und ihr habt mich noch: sagt, wem fielen,
wie mir, solche Rosenäpfel vom Baume?

Immer noch bin ich eurer Liebe Erbe und Erd¬
reich, blühend zu eurem Gedächtnisse von bunten
wildwachsenen Tugenden, oh ihr Geliebtesten!

Ach, wir waren gemacht, einander nahe zu bleiben,
ihr holden fremden Wunder; und nicht schüchternen

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[42/0052] Das Grablied. „Dort ist die Gräberinsel, die schweigsame; dort sind auch die Gräber meiner Jugend. Dahin will ich einen immergrünen Kranz des Lebens tragen.“ Also im Herzen beschliessend fuhr ich über das Meer. — Oh ihr, meiner Jugend Gesichte und Erscheinungen! Oh, ihr Blicke der Liebe alle, ihr göttlichen Augen¬ blicke! Wie starbt ihr mir so schnell! Ich gedenke eurer heute wie meiner Todten. Von euch her, meinen liebsten Todten, kommt mir ein süsser Geruch, ein herz- und thränenlösender. Wahrlich, er erschüttert und löst das Herz dem einsam Schiffenden. Immer noch bin ich der Reichste und Bestzu¬ beneidende — ich der Einsamste! Denn ich hatte euch doch, und ihr habt mich noch: sagt, wem fielen, wie mir, solche Rosenäpfel vom Baume? Immer noch bin ich eurer Liebe Erbe und Erd¬ reich, blühend zu eurem Gedächtnisse von bunten wildwachsenen Tugenden, oh ihr Geliebtesten! Ach, wir waren gemacht, einander nahe zu bleiben, ihr holden fremden Wunder; und nicht schüchternen

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Zitationshilfe: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Bd. 2. Chemnitz, 1883, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nietzsche_zarathustra02_1883/52>, abgerufen am 28.03.2024.