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Mährisches Tagblatt. Nr. 100, Olmütz, 02.05.1892.

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[Spaltenumbruch]

II. Die heutige Versammlung protestirt
entschieden gegen die Ausschließung der Ar-
beiteeclasse von den politischen Rechten ins-
besondere vom Wahlrecht, wie es heute
über ein Drittel des Volkes ausübt. Sie pro-
testirt gegen die Zumuthung, sie sei weniger
politisch reif, als irgend eine andere Classe der
Gesellschaft. Sie protestirt insbesondere gegen die
Bestimmung, daß das Wahlrecht von der directen
Steuer abhängig gemacht und der Arbeiterschaft,
welche mit indirecten Abgaben belastet ist, welche
die Blutsteuer trägt und welche mittelbar auch
den Haupttheil der directen Steuern trägt, vor-
enthalten wird. Die heutige Versammlung verlangt
also als Grundlage und Vorbedingung einer
ernsten Geltendmachung der Volksinteressen die
Aufhebung der politischen Vorrechte aller privile-
girten Interessentengruppen und das allgemeine,
gleiche und directe Wahlrecht für alle Staats-
angehörige ohne Unterschied des Geschlechtes vom
21. Lebensjahre an.

Die heutige Versammlung begrüßt hoff-
nungsfreudig ihre für die Befreiung kämpfenden
Brüder, die Proletarier aller Zungen in allen
Ländern und allen Zonen im vollen Bewußtsein
daß ebenso wie der Capitalismus neben der Aus-
beutung der Volksgenossen den Militarismns
und den brudermörderischen Krieg bedingt, so der
Sieg der internationalen Socialdemocratie, die
Emancipation des Proletariats auch den Frieden
der Völker, die brüderliche Solidarität aller Na-
tionen bedeuten wird.

Die oppositionellen Arbeiterver-
sammlungen
nahmen keine Resolution an,
sondern erklärten sich nur für den Acht-
Stundentag.
In vielen Versammlungen
wurde das Vorgehen der Anarchisten
verurtheilt.
-- In den Versammlungen
wurde auch für die Arbeiterpresse gesammelt, in-
dem um 10 kr. das Bild Raimund Lavigues,
des Antragstellers der Feier des ersten Maitages
zu Gunsten obiger Presse verkauft wurde.

Seit 3 Uhr Nachmittags hat es zu regnen
aufgehört. Die Polizei hat den Einberufern der
Versammlung den stricten Auftrag ertheilt, daß
der Marsch in den Prater weder in geschlossenen
Reihen noch in Gruppen gestattet werden könnte.
Die Arbeiter ziehen demgemäß ohne jede Bemer-
kung in den Prater. Die Arbeiter haben an den
Kreuzungspuncten der Straßen Orddner aufgestellt.




Pariser Anarchistenpanik.


Der Pariser Correspondent des "Berliner
Tagblattes" veröffentlicht in dem genannten
Blatte den nachstehenden Bericht über die gegen-
wärtige Sitnation in der französischen Hauptstadt:


[Spaltenumbruch]

Die Stimmung in Paris ist nach dem
Ausgange des Processes Ravachol und nach der
Explosion im Restaurant Very nicht gerade eine
gehobenere geworden. Für letzteres macht man
die Polizei verantwortlich und wirft ihr wesent-
lich vor, daß sie nicht ständig m[e]hrere, in der
Anarchistenwelt bewanderte Geheimpolizisten in
dem Locale selber und außerhalb desselben auf-
gestellt hatte. Natürlich werden gerade jetzt
enorme Anforderungen an die Polizei gestellt.
Die Drohbriefe regnen förmlich auf alle Haus-
besitzer wie auf die öffentlichen Beamten jeder
Categorie hernieder. Jeder, der durch einen Droh-
brief beunruhigt wird, eilt auf die Polizei, um
Hilfe und besonderen Schutz zu erbitten.

Ein Restaurateur in der Rue Julien Lacroix
erhielt einen Drohbrief, in welchem er benach-
richtigt wurde, daß sein Local das Schicksal
desjenigen Verys theilen werde. Der Wirth be-
nachrichtigt die Polizei, welche ihm vier Agenten
vor und in sein Local steckt. Natürlich verbreitet
sich das Gerücht dieser Maßregel sofort im
Hause, das von vielen kleinen Miethern bewohnt
wird, und in wenigen Stunden haben fünfzchn
Miether aufgepackt und verließen das Haus. Es
ist freilich nicht ausgeschlossen, daß ein Theil
dieser Miether diesen Vorwand benützt hat, um
sich der Zahlung gewisser Miethsrückstände zu
entziehen. -- In dem Quartier Saint Gervais
hatten Hospitalschwestern einen Drohbrief des
Inhaltes erhalten, daß sie demnächst in die
Luft fliegen würden. Der Schrecken der armen
Nonnen war ein derartiger, daß sie sofort beschlos-
sen, mit sechzig ihrer Pflege anvertrauten Kindern
auszuziehen. Der Polizeicommissar hatte alle
Mühe, sie an der Ausführung dieses Entschlusses
zu verhindern, und versprach ihnen, das Haus
überwachen zu lassen. In demselben Viertel konnte
ein anderer bedrohter Hausbesitzer seine Miether
nur dadurch am Ausziehen verhindern, daß er
den Polizeicommissar bewog, einen Posten an
sein Haus zu stellen. Wo soll schließlich die
Polizei für alle diese Specialbewachungen her-
kommen? Ist doch der Mangel an Polizei seit
Jahren eine Calamität, deren Abhilfe stets am
Widerstande der Gemeindeverwaltung scheiterte.

Die allgemeine Beunruhigung drückt natür-
lich auch auf das ganze Geschäftsleben, und in
gewissen Vierteln haben die Kaufleute einen Still-
stand im Geschäft constatirt, die Aufträge sind
seltener geworden, und die Vertreter der Häuser
aus der Provinz und dem Auslande erscheinen
immer weniger in den Fabriken und den Comp-
toirs. Die Behörden wollen dies natürlich vor-
läufig nicht zugeben. Man sucht auf jede Weise
den gesunkenen Muth der Bevölkerung zu heben.
Was in dieser Beziehung aber von den officiösen
Organen erreicht wird, das macht die reactionäre
Oppositionspresse wieder hinfällig durch maßlose
[Spaltenumbruch] Uebertreibung der socialen Gefahr, für welche
sie die Republik mit ihrem Atheismus verant-
wortlich macht.

Ob die Polizeipräfectur Recht thut, Briefe,
wie den nachstehenden, der Presse zur Veröffent-
lichung zu überantworten und dadurch nur die
Panik zu vermehren, mag dahingestellt bleiben.
Die Präfectur erhielt folgendes Schreiben:

Wir hegen gegen alle die Hungerleider Haß,
die durch uns zu Deputirten gewählt worden
sind, welche die arbeitende Classe und die kleinen
Kaufleute getäuscht haben. Wir können uns nur
einzeln und individuell rächen und sind nicht so
dumm, das Pflaster aufzureißen und die Omni-
busse zum Bauen von Barrikaden zu benutzen.
Wir hassen die Capitalisten, die Juden, die
großen Magazine. Alle werden an die Reihe
kommen. Wir werden ja sehen, ob die durch uns
gewählten Dickwänste des Senats und der Kam-
mer sich ihres Daseins noch lange erfreuen. Alles,
was bisher geschehen, steht in keinem Vergleich
zu dem, was geschehen wird. Freilich sind wir
nicht dumm genug, um am ersten Mai ans
Werk zu gehen. Noch ehe zwei Jahre verflossen
sind, werden wir die geizige, egoistische, gemeine
Bourgeoise terrorisirt, niedergeworfen und ge-
brochen haben. Die Leute, welche die Macht in
Frankreich an sich gerissen haben, sind unsere
Todfein[d]e. Bis zum Letzten werden diese elenden
Feiglinge, die uns Alles versprochen, aber nichts
für uns gethan haben, ausgerottet werden etc. etc.

Enthält dieses Schreiben auch ein gutes
Theil alberner Prahlerei, so wird dasselbe, an
eine öffentliche Behörde gerichtet, doch bei der
einmal vorhandenen Stimmung nicht verfehlen,
einen gewissen Eindruck hervorzurufen. Und dann
läßt dasselbe erkennen, daß in den Zerstörungs-
taumel immer größere Kreise hereingerissen werden.

Wie groß und wie allgemein die Panik
ist, davon war ich vorgestern Abend selber Zeuge.
Ich ging an dem großen Magazin des Prin-
temps vorüber, vor welchem sich Abends immer
ein starker Verkehr entwickelt. Ein Passant hatte
ein brennendes Streichholz auf die Erde gewor-
fen. Bei dem Anblick besselben war das breite,
eben noch von zahlreichen Fußgängern benutzte
Trottoir plötzlich wie gefegt, Alles flüchtete auf
auf die andere Seite. Erst als ein "beherzter"
Mann die Flamme ausgetreten hatte, beruhigte
sich die Menge.

Aus dem im ständigen Wachsen begriffenen
Zorn, der sich gegen den Jury geltend macht,
welche den Angeklagten im Proceß Ravachol
mildernde Umstände bewilligte, darf man schlie-
ßen, daß die Menge in der Verhängung des
Todesurtheils ein Abschreckungsmittel erblickt
haben würde. Ob eine solche Annahme begründet
ist, mag dahingestellt bleiben. Die Anarchisten,
welche die Propaganda durch die That auf ihre




[Spaltenumbruch]

mit besorgten Mienen zuschauende Gesichter.
Es sind die der Gefangenen, die sich den Vor-
gang nicht erklären können. Außer dem Meister,
der die Maschine lachend seine "Demoiselle"
nennt, da sie noch Jungfrau sei, und ihre Vor-
züge preist, nebst seinen Gesellen befinden sich
noch zwei Gruppen von Personen auf dem Ge-
fängnißhofe, jede aus vier Personen bestehend.
Die eine derselben bilden die Doctoren Louis,
erster Leibarzt des Königs, Guillotin, ebenfalls
Leibarzt, und Pinel und Cabans. Guillotin ist
aufgeregt und erklärt voll Eifer seinen Collegen
die Vorzüge seiner Erfindung, sieht sich aber
öfter unruhig um, als erwarte er Jemand oder
etwas. In einer Ecke des Hofes befindet sich die
zweite Gruppe, ebenfalls aus vier Männern be-
stehend, welche mit lebhaftem Interesse dem Auf-
schlagen der Maschine folgen, obgleich sie sich in
bescheidener Entfernung halten. Ihre Theilnahme
ist nur zu gerechtfertigt. Es ist Samson, der
Henker von Paris, "Monsieur de Paris" ge-
nannt, ein Mann in mittleren Jahren, von
hoher Gestalt, mit offenen Zügen und freund-
lichem Lächeln. Die drei Anderen sind sein Sohn
und seine Gehilfen. Jetzt fährt ein von zwei
Männern geschobener Karren in den Hof.
"Aha, da kommen sie endlich!" ruft Guil-
lotin mit Befriedigung. Auf dem Karren
liegen drei Säcke, und in jedem der Säcke be-
findet sich eine von der Hosvitalverwaltung ge-
schickte Leiche. Der Henker mit seinen Gehilfen
bemächtigt sich Einer der Leichen, schnallt sie an
das Fallbrett und steckt ihren Kopf durch die
[Spaltenumbruch] Oeffnung. Dann drückt er auf die Feder, das
Messer saust hinab und der Kopf rollt auf den
Boden. Guillotin stößt einen Freudenruf aus
und die Zuschauer bezeigen ihm ihren Beifall.
Der witzige Zimmermeister nennt die Maschine
jetzt "Madame". Der zweite Versuch ergab den-
selben Erfolg; beim dritten jedoch wurde der
Kopf nicht gänzlich abgetrennt und mußte erst vollends
mit dem Messer abgeschnitten werden. Man legte
jedoch diesem Unfall, den man nicht der Maschine
zuschrieb, wenig Bedeutung bei und ordnete "in
Betracht der Ungeduld des Volkes" bereits wenige
Tage später, am 25. April, die Hinrichtung des
als Dieb und Mörder verurtheilten Jacob Nikolaus
Pelletier, gewissermaßen als Probe an einem
Lebenden an.

Obgleich auch dieser Versuch gut ausfiel, so
sollte denuoch das Mordinstrument auf merk-
würdige Weise zur unfehlbaren Vollkommenheit
gebracht werden.

Wie erwähnt, hatte das Fallbeil bei der
dritten Leiche nicht ganz seine Schuldigkeit gethan
und den Kopf derselben nur zu drei Viertheilen
abgetrennt. Man hatte dem Könige von dem
Versuch im Hofe von Bicetre gesprochen und
ihm auch diesen unangenehmen Zwischenfall nicht
verhehlt. Die Sache interessirte Ludwig XVI.,
der ein guter Mechaniker und namentlich ein ge-
schickter Schlosser war. Er ließ sich daher bei
nächster Gelegenheit von seinem Leibarzte, dem
Dr. Louis, der bei jenem Versuche zugegen
gewesen, den Mechanismus der Maschine erklären.
Um seine Erklärung recht anschaulich zu machen,
[Spaltenumbruch] nahm Dr. Louis einen Bleistift und versuchte das In-
strument zu zeichnen. Aufmerksam betrachtete der
König die Zeichnung und sagte dann, indem er
mit dem Finger auf das Fallbeil deutete: "Hier
liegt der Fehler; das Beil sollte nicht von halb-
mondförmiger, sondern von dreieckiger Form
und schräg wie eine Säge sein; dann würde
der Mechanismus niemals versagen." Darauf
nahm er den Bleistift und änderte damit die
Zeichnung ab. In der That hatte er das Richtige
getroffen und die Guillotine wurde nach seiner
Angabe geändert.

Neun Monate später fiel der Kopf des
unglücklichen Königs unter dem Fallbeil, wie er
es selbst gezeichnet hatte.




Adolf Wilbrandt's neuestes
Bühnenwerk.

Die "Wiener Abendpost" berichtet über das
jüngst im Münchener Hoftheater zur Erstauffüh-
rung gelangte neue Schauspiel Adolf Wilbrandt's:
"Der Lootsencommandeur."

Es ist nicht das erste Mal, schreibt der Re-
ferent des genannten Blattes, daß Adolf Wil-
brandt seine neuen Stücke auf der Münchener
Hofbühne zuerst aufführen läßt, daß sie von
München aus den Weg über die anderen deut-
schen Theater antreten. So war es seinerzeit mit
den "Malern", so mit "Marianne", dem letzten
Schauspiele, das später umgetauft wurde in "Der
Unterstaatssecretär." Nicht so heiter und liebens-
würdig wie diese beiden Stücke ist das neueste,


[Spaltenumbruch]

II. Die heutige Verſammlung proteſtirt
entſchieden gegen die Ausſchließung der Ar-
beiteeclaſſe von den politiſchen Rechten ins-
beſondere vom Wahlrecht, wie es heute
über ein Drittel des Volkes ausübt. Sie pro-
teſtirt gegen die Zumuthung, ſie ſei weniger
politiſch reif, als irgend eine andere Claſſe der
Geſellſchaft. Sie proteſtirt insbeſondere gegen die
Beſtimmung, daß das Wahlrecht von der directen
Steuer abhängig gemacht und der Arbeiterſchaft,
welche mit indirecten Abgaben belaſtet iſt, welche
die Blutſteuer trägt und welche mittelbar auch
den Haupttheil der directen Steuern trägt, vor-
enthalten wird. Die heutige Verſammlung verlangt
alſo als Grundlage und Vorbedingung einer
ernſten Geltendmachung der Volksintereſſen die
Aufhebung der politiſchen Vorrechte aller privile-
girten Intereſſentengruppen und das allgemeine,
gleiche und directe Wahlrecht für alle Staats-
angehörige ohne Unterſchied des Geſchlechtes vom
21. Lebensjahre an.

Die heutige Verſammlung begrüßt hoff-
nungsfreudig ihre für die Befreiung kämpfenden
Brüder, die Proletarier aller Zungen in allen
Ländern und allen Zonen im vollen Bewußtſein
daß ebenſo wie der Capitalismus neben der Aus-
beutung der Volksgenoſſen den Militarismns
und den brudermörderiſchen Krieg bedingt, ſo der
Sieg der internationalen Socialdemocratie, die
Emancipation des Proletariats auch den Frieden
der Völker, die brüderliche Solidarität aller Na-
tionen bedeuten wird.

Die oppoſitionellen Arbeiterver-
ſammlungen
nahmen keine Reſolution an,
ſondern erklärten ſich nur für den Acht-
Stundentag.
In vielen Verſammlungen
wurde das Vorgehen der Anarchiſten
verurtheilt.
— In den Verſammlungen
wurde auch für die Arbeiterpreſſe geſammelt, in-
dem um 10 kr. das Bild Raimund Lavigues,
des Antragſtellers der Feier des erſten Maitages
zu Gunſten obiger Preſſe verkauft wurde.

Seit 3 Uhr Nachmittags hat es zu regnen
aufgehört. Die Polizei hat den Einberufern der
Verſammlung den ſtricten Auftrag ertheilt, daß
der Marſch in den Prater weder in geſchloſſenen
Reihen noch in Gruppen geſtattet werden könnte.
Die Arbeiter ziehen demgemäß ohne jede Bemer-
kung in den Prater. Die Arbeiter haben an den
Kreuzungspuncten der Straßen Orddner aufgeſtellt.




Pariſer Anarchiſtenpanik.


Der Pariſer Correſpondent des „Berliner
Tagblattes“ veröffentlicht in dem genannten
Blatte den nachſtehenden Bericht über die gegen-
wärtige Sitnation in der franzöſiſchen Hauptſtadt:


[Spaltenumbruch]

Die Stimmung in Paris iſt nach dem
Ausgange des Proceſſes Ravachol und nach der
Exploſion im Reſtaurant Very nicht gerade eine
gehobenere geworden. Für letzteres macht man
die Polizei verantwortlich und wirft ihr weſent-
lich vor, daß ſie nicht ſtändig m[e]hrere, in der
Anarchiſtenwelt bewanderte Geheimpoliziſten in
dem Locale ſelber und außerhalb desſelben auf-
geſtellt hatte. Natürlich werden gerade jetzt
enorme Anforderungen an die Polizei geſtellt.
Die Drohbriefe regnen förmlich auf alle Haus-
beſitzer wie auf die öffentlichen Beamten jeder
Categorie hernieder. Jeder, der durch einen Droh-
brief beunruhigt wird, eilt auf die Polizei, um
Hilfe und beſonderen Schutz zu erbitten.

Ein Reſtaurateur in der Rue Julien Lacroix
erhielt einen Drohbrief, in welchem er benach-
richtigt wurde, daß ſein Local das Schickſal
desjenigen Verys theilen werde. Der Wirth be-
nachrichtigt die Polizei, welche ihm vier Agenten
vor und in ſein Local ſteckt. Natürlich verbreitet
ſich das Gerücht dieſer Maßregel ſofort im
Hauſe, das von vielen kleinen Miethern bewohnt
wird, und in wenigen Stunden haben fünfzchn
Miether aufgepackt und verließen das Haus. Es
iſt freilich nicht ausgeſchloſſen, daß ein Theil
dieſer Miether dieſen Vorwand benützt hat, um
ſich der Zahlung gewiſſer Miethsrückſtände zu
entziehen. — In dem Quartier Saint Gervais
hatten Hoſpitalſchweſtern einen Drohbrief des
Inhaltes erhalten, daß ſie demnächſt in die
Luft fliegen würden. Der Schrecken der armen
Nonnen war ein derartiger, daß ſie ſofort beſchloſ-
ſen, mit ſechzig ihrer Pflege anvertrauten Kindern
auszuziehen. Der Polizeicommiſſar hatte alle
Mühe, ſie an der Ausführung dieſes Entſchluſſes
zu verhindern, und verſprach ihnen, das Haus
überwachen zu laſſen. In demſelben Viertel konnte
ein anderer bedrohter Hausbeſitzer ſeine Miether
nur dadurch am Ausziehen verhindern, daß er
den Polizeicommiſſar bewog, einen Poſten an
ſein Haus zu ſtellen. Wo ſoll ſchließlich die
Polizei für alle dieſe Specialbewachungen her-
kommen? Iſt doch der Mangel an Polizei ſeit
Jahren eine Calamität, deren Abhilfe ſtets am
Widerſtande der Gemeindeverwaltung ſcheiterte.

Die allgemeine Beunruhigung drückt natür-
lich auch auf das ganze Geſchäftsleben, und in
gewiſſen Vierteln haben die Kaufleute einen Still-
ſtand im Geſchäft conſtatirt, die Aufträge ſind
ſeltener geworden, und die Vertreter der Häuſer
aus der Provinz und dem Auslande erſcheinen
immer weniger in den Fabriken und den Comp-
toirs. Die Behörden wollen dies natürlich vor-
läufig nicht zugeben. Man ſucht auf jede Weiſe
den geſunkenen Muth der Bevölkerung zu heben.
Was in dieſer Beziehung aber von den officiöſen
Organen erreicht wird, das macht die reactionäre
Oppoſitionspreſſe wieder hinfällig durch maßloſe
[Spaltenumbruch] Uebertreibung der ſocialen Gefahr, für welche
ſie die Republik mit ihrem Atheismus verant-
wortlich macht.

Ob die Polizeipräfectur Recht thut, Briefe,
wie den nachſtehenden, der Preſſe zur Veröffent-
lichung zu überantworten und dadurch nur die
Panik zu vermehren, mag dahingeſtellt bleiben.
Die Präfectur erhielt folgendes Schreiben:

Wir hegen gegen alle die Hungerleider Haß,
die durch uns zu Deputirten gewählt worden
ſind, welche die arbeitende Claſſe und die kleinen
Kaufleute getäuſcht haben. Wir können uns nur
einzeln und individuell rächen und ſind nicht ſo
dumm, das Pflaſter aufzureißen und die Omni-
buſſe zum Bauen von Barrikaden zu benutzen.
Wir haſſen die Capitaliſten, die Juden, die
großen Magazine. Alle werden an die Reihe
kommen. Wir werden ja ſehen, ob die durch uns
gewählten Dickwänſte des Senats und der Kam-
mer ſich ihres Daſeins noch lange erfreuen. Alles,
was bisher geſchehen, ſteht in keinem Vergleich
zu dem, was geſchehen wird. Freilich ſind wir
nicht dumm genug, um am erſten Mai ans
Werk zu gehen. Noch ehe zwei Jahre verfloſſen
ſind, werden wir die geizige, egoiſtiſche, gemeine
Bourgeoiſe terroriſirt, niedergeworfen und ge-
brochen haben. Die Leute, welche die Macht in
Frankreich an ſich geriſſen haben, ſind unſere
Todfein[d]e. Bis zum Letzten werden dieſe elenden
Feiglinge, die uns Alles verſprochen, aber nichts
für uns gethan haben, ausgerottet werden ꝛc. ꝛc.

Enthält dieſes Schreiben auch ein gutes
Theil alberner Prahlerei, ſo wird daſſelbe, an
eine öffentliche Behörde gerichtet, doch bei der
einmal vorhandenen Stimmung nicht verfehlen,
einen gewiſſen Eindruck hervorzurufen. Und dann
läßt daſſelbe erkennen, daß in den Zerſtörungs-
taumel immer größere Kreiſe hereingeriſſen werden.

Wie groß und wie allgemein die Panik
iſt, davon war ich vorgeſtern Abend ſelber Zeuge.
Ich ging an dem großen Magazin des Prin-
temps vorüber, vor welchem ſich Abends immer
ein ſtarker Verkehr entwickelt. Ein Paſſant hatte
ein brennendes Streichholz auf die Erde gewor-
fen. Bei dem Anblick beſſelben war das breite,
eben noch von zahlreichen Fußgängern benutzte
Trottoir plötzlich wie gefegt, Alles flüchtete auf
auf die andere Seite. Erſt als ein „beherzter“
Mann die Flamme ausgetreten hatte, beruhigte
ſich die Menge.

Aus dem im ſtändigen Wachſen begriffenen
Zorn, der ſich gegen den Jury geltend macht,
welche den Angeklagten im Proceß Ravachol
mildernde Umſtände bewilligte, darf man ſchlie-
ßen, daß die Menge in der Verhängung des
Todesurtheils ein Abſchreckungsmittel erblickt
haben würde. Ob eine ſolche Annahme begründet
iſt, mag dahingeſtellt bleiben. Die Anarchiſten,
welche die Propaganda durch die That auf ihre




[Spaltenumbruch]

mit beſorgten Mienen zuſchauende Geſichter.
Es ſind die der Gefangenen, die ſich den Vor-
gang nicht erklären können. Außer dem Meiſter,
der die Maſchine lachend ſeine „Demoiſelle“
nennt, da ſie noch Jungfrau ſei, und ihre Vor-
züge preiſt, nebſt ſeinen Geſellen befinden ſich
noch zwei Gruppen von Perſonen auf dem Ge-
fängnißhofe, jede aus vier Perſonen beſtehend.
Die eine derſelben bilden die Doctoren Louis,
erſter Leibarzt des Königs, Guillotin, ebenfalls
Leibarzt, und Pinel und Cabans. Guillotin iſt
aufgeregt und erklärt voll Eifer ſeinen Collegen
die Vorzüge ſeiner Erfindung, ſieht ſich aber
öfter unruhig um, als erwarte er Jemand oder
etwas. In einer Ecke des Hofes befindet ſich die
zweite Gruppe, ebenfalls aus vier Männern be-
ſtehend, welche mit lebhaftem Intereſſe dem Auf-
ſchlagen der Maſchine folgen, obgleich ſie ſich in
beſcheidener Entfernung halten. Ihre Theilnahme
iſt nur zu gerechtfertigt. Es iſt Samſon, der
Henker von Paris, „Monsieur de Paris“ ge-
nannt, ein Mann in mittleren Jahren, von
hoher Geſtalt, mit offenen Zügen und freund-
lichem Lächeln. Die drei Anderen ſind ſein Sohn
und ſeine Gehilfen. Jetzt fährt ein von zwei
Männern geſchobener Karren in den Hof.
„Aha, da kommen ſie endlich!“ ruft Guil-
lotin mit Befriedigung. Auf dem Karren
liegen drei Säcke, und in jedem der Säcke be-
findet ſich eine von der Hoſvitalverwaltung ge-
ſchickte Leiche. Der Henker mit ſeinen Gehilfen
bemächtigt ſich Einer der Leichen, ſchnallt ſie an
das Fallbrett und ſteckt ihren Kopf durch die
[Spaltenumbruch] Oeffnung. Dann drückt er auf die Feder, das
Meſſer ſauſt hinab und der Kopf rollt auf den
Boden. Guillotin ſtößt einen Freudenruf aus
und die Zuſchauer bezeigen ihm ihren Beifall.
Der witzige Zimmermeiſter nennt die Maſchine
jetzt „Madame“. Der zweite Verſuch ergab den-
ſelben Erfolg; beim dritten jedoch wurde der
Kopf nicht gänzlich abgetrennt und mußte erſt vollends
mit dem Meſſer abgeſchnitten werden. Man legte
jedoch dieſem Unfall, den man nicht der Maſchine
zuſchrieb, wenig Bedeutung bei und ordnete „in
Betracht der Ungeduld des Volkes“ bereits wenige
Tage ſpäter, am 25. April, die Hinrichtung des
als Dieb und Mörder verurtheilten Jacob Nikolaus
Pelletier, gewiſſermaßen als Probe an einem
Lebenden an.

Obgleich auch dieſer Verſuch gut ausfiel, ſo
ſollte denuoch das Mordinſtrument auf merk-
würdige Weiſe zur unfehlbaren Vollkommenheit
gebracht werden.

Wie erwähnt, hatte das Fallbeil bei der
dritten Leiche nicht ganz ſeine Schuldigkeit gethan
und den Kopf derſelben nur zu drei Viertheilen
abgetrennt. Man hatte dem Könige von dem
Verſuch im Hofe von Bicétre geſprochen und
ihm auch dieſen unangenehmen Zwiſchenfall nicht
verhehlt. Die Sache intereſſirte Ludwig XVI.,
der ein guter Mechaniker und namentlich ein ge-
ſchickter Schloſſer war. Er ließ ſich daher bei
nächſter Gelegenheit von ſeinem Leibarzte, dem
Dr. Louis, der bei jenem Verſuche zugegen
geweſen, den Mechanismus der Maſchine erklären.
Um ſeine Erklärung recht anſchaulich zu machen,
[Spaltenumbruch] nahm Dr. Louis einen Bleiſtift und verſuchte das In-
ſtrument zu zeichnen. Aufmerkſam betrachtete der
König die Zeichnung und ſagte dann, indem er
mit dem Finger auf das Fallbeil deutete: „Hier
liegt der Fehler; das Beil ſollte nicht von halb-
mondförmiger, ſondern von dreieckiger Form
und ſchräg wie eine Säge ſein; dann würde
der Mechanismus niemals verſagen.“ Darauf
nahm er den Bleiſtift und änderte damit die
Zeichnung ab. In der That hatte er das Richtige
getroffen und die Guillotine wurde nach ſeiner
Angabe geändert.

Neun Monate ſpäter fiel der Kopf des
unglücklichen Königs unter dem Fallbeil, wie er
es ſelbſt gezeichnet hatte.




Adolf Wilbrandt’s neueſtes
Bühnenwerk.

Die „Wiener Abendpoſt“ berichtet über das
jüngſt im Münchener Hoftheater zur Erſtauffüh-
rung gelangte neue Schauſpiel Adolf Wilbrandt’s:
„Der Lootſencommandeur.“

Es iſt nicht das erſte Mal, ſchreibt der Re-
ferent des genannten Blattes, daß Adolf Wil-
brandt ſeine neuen Stücke auf der Münchener
Hofbühne zuerſt aufführen läßt, daß ſie von
München aus den Weg über die anderen deut-
ſchen Theater antreten. So war es ſeinerzeit mit
den „Malern“, ſo mit „Marianne“, dem letzten
Schauſpiele, das ſpäter umgetauft wurde in „Der
Unterſtaatsſecretär.“ Nicht ſo heiter und liebens-
würdig wie dieſe beiden Stücke iſt das neueſte,


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[[2]/0002] II. Die heutige Verſammlung proteſtirt entſchieden gegen die Ausſchließung der Ar- beiteeclaſſe von den politiſchen Rechten ins- beſondere vom Wahlrecht, wie es heute über ein Drittel des Volkes ausübt. Sie pro- teſtirt gegen die Zumuthung, ſie ſei weniger politiſch reif, als irgend eine andere Claſſe der Geſellſchaft. Sie proteſtirt insbeſondere gegen die Beſtimmung, daß das Wahlrecht von der directen Steuer abhängig gemacht und der Arbeiterſchaft, welche mit indirecten Abgaben belaſtet iſt, welche die Blutſteuer trägt und welche mittelbar auch den Haupttheil der directen Steuern trägt, vor- enthalten wird. Die heutige Verſammlung verlangt alſo als Grundlage und Vorbedingung einer ernſten Geltendmachung der Volksintereſſen die Aufhebung der politiſchen Vorrechte aller privile- girten Intereſſentengruppen und das allgemeine, gleiche und directe Wahlrecht für alle Staats- angehörige ohne Unterſchied des Geſchlechtes vom 21. Lebensjahre an. Die heutige Verſammlung begrüßt hoff- nungsfreudig ihre für die Befreiung kämpfenden Brüder, die Proletarier aller Zungen in allen Ländern und allen Zonen im vollen Bewußtſein daß ebenſo wie der Capitalismus neben der Aus- beutung der Volksgenoſſen den Militarismns und den brudermörderiſchen Krieg bedingt, ſo der Sieg der internationalen Socialdemocratie, die Emancipation des Proletariats auch den Frieden der Völker, die brüderliche Solidarität aller Na- tionen bedeuten wird. Die oppoſitionellen Arbeiterver- ſammlungen nahmen keine Reſolution an, ſondern erklärten ſich nur für den Acht- Stundentag. In vielen Verſammlungen wurde das Vorgehen der Anarchiſten verurtheilt. — In den Verſammlungen wurde auch für die Arbeiterpreſſe geſammelt, in- dem um 10 kr. das Bild Raimund Lavigues, des Antragſtellers der Feier des erſten Maitages zu Gunſten obiger Preſſe verkauft wurde. Seit 3 Uhr Nachmittags hat es zu regnen aufgehört. Die Polizei hat den Einberufern der Verſammlung den ſtricten Auftrag ertheilt, daß der Marſch in den Prater weder in geſchloſſenen Reihen noch in Gruppen geſtattet werden könnte. Die Arbeiter ziehen demgemäß ohne jede Bemer- kung in den Prater. Die Arbeiter haben an den Kreuzungspuncten der Straßen Orddner aufgeſtellt. Pariſer Anarchiſtenpanik. Olmütz, 2. Mai. Der Pariſer Correſpondent des „Berliner Tagblattes“ veröffentlicht in dem genannten Blatte den nachſtehenden Bericht über die gegen- wärtige Sitnation in der franzöſiſchen Hauptſtadt: Die Stimmung in Paris iſt nach dem Ausgange des Proceſſes Ravachol und nach der Exploſion im Reſtaurant Very nicht gerade eine gehobenere geworden. Für letzteres macht man die Polizei verantwortlich und wirft ihr weſent- lich vor, daß ſie nicht ſtändig mehrere, in der Anarchiſtenwelt bewanderte Geheimpoliziſten in dem Locale ſelber und außerhalb desſelben auf- geſtellt hatte. Natürlich werden gerade jetzt enorme Anforderungen an die Polizei geſtellt. Die Drohbriefe regnen förmlich auf alle Haus- beſitzer wie auf die öffentlichen Beamten jeder Categorie hernieder. Jeder, der durch einen Droh- brief beunruhigt wird, eilt auf die Polizei, um Hilfe und beſonderen Schutz zu erbitten. Ein Reſtaurateur in der Rue Julien Lacroix erhielt einen Drohbrief, in welchem er benach- richtigt wurde, daß ſein Local das Schickſal desjenigen Verys theilen werde. Der Wirth be- nachrichtigt die Polizei, welche ihm vier Agenten vor und in ſein Local ſteckt. Natürlich verbreitet ſich das Gerücht dieſer Maßregel ſofort im Hauſe, das von vielen kleinen Miethern bewohnt wird, und in wenigen Stunden haben fünfzchn Miether aufgepackt und verließen das Haus. Es iſt freilich nicht ausgeſchloſſen, daß ein Theil dieſer Miether dieſen Vorwand benützt hat, um ſich der Zahlung gewiſſer Miethsrückſtände zu entziehen. — In dem Quartier Saint Gervais hatten Hoſpitalſchweſtern einen Drohbrief des Inhaltes erhalten, daß ſie demnächſt in die Luft fliegen würden. Der Schrecken der armen Nonnen war ein derartiger, daß ſie ſofort beſchloſ- ſen, mit ſechzig ihrer Pflege anvertrauten Kindern auszuziehen. Der Polizeicommiſſar hatte alle Mühe, ſie an der Ausführung dieſes Entſchluſſes zu verhindern, und verſprach ihnen, das Haus überwachen zu laſſen. In demſelben Viertel konnte ein anderer bedrohter Hausbeſitzer ſeine Miether nur dadurch am Ausziehen verhindern, daß er den Polizeicommiſſar bewog, einen Poſten an ſein Haus zu ſtellen. Wo ſoll ſchließlich die Polizei für alle dieſe Specialbewachungen her- kommen? Iſt doch der Mangel an Polizei ſeit Jahren eine Calamität, deren Abhilfe ſtets am Widerſtande der Gemeindeverwaltung ſcheiterte. Die allgemeine Beunruhigung drückt natür- lich auch auf das ganze Geſchäftsleben, und in gewiſſen Vierteln haben die Kaufleute einen Still- ſtand im Geſchäft conſtatirt, die Aufträge ſind ſeltener geworden, und die Vertreter der Häuſer aus der Provinz und dem Auslande erſcheinen immer weniger in den Fabriken und den Comp- toirs. Die Behörden wollen dies natürlich vor- läufig nicht zugeben. Man ſucht auf jede Weiſe den geſunkenen Muth der Bevölkerung zu heben. Was in dieſer Beziehung aber von den officiöſen Organen erreicht wird, das macht die reactionäre Oppoſitionspreſſe wieder hinfällig durch maßloſe Uebertreibung der ſocialen Gefahr, für welche ſie die Republik mit ihrem Atheismus verant- wortlich macht. Ob die Polizeipräfectur Recht thut, Briefe, wie den nachſtehenden, der Preſſe zur Veröffent- lichung zu überantworten und dadurch nur die Panik zu vermehren, mag dahingeſtellt bleiben. Die Präfectur erhielt folgendes Schreiben: Wir hegen gegen alle die Hungerleider Haß, die durch uns zu Deputirten gewählt worden ſind, welche die arbeitende Claſſe und die kleinen Kaufleute getäuſcht haben. Wir können uns nur einzeln und individuell rächen und ſind nicht ſo dumm, das Pflaſter aufzureißen und die Omni- buſſe zum Bauen von Barrikaden zu benutzen. Wir haſſen die Capitaliſten, die Juden, die großen Magazine. Alle werden an die Reihe kommen. Wir werden ja ſehen, ob die durch uns gewählten Dickwänſte des Senats und der Kam- mer ſich ihres Daſeins noch lange erfreuen. Alles, was bisher geſchehen, ſteht in keinem Vergleich zu dem, was geſchehen wird. Freilich ſind wir nicht dumm genug, um am erſten Mai ans Werk zu gehen. Noch ehe zwei Jahre verfloſſen ſind, werden wir die geizige, egoiſtiſche, gemeine Bourgeoiſe terroriſirt, niedergeworfen und ge- brochen haben. Die Leute, welche die Macht in Frankreich an ſich geriſſen haben, ſind unſere Todfeinde. Bis zum Letzten werden dieſe elenden Feiglinge, die uns Alles verſprochen, aber nichts für uns gethan haben, ausgerottet werden ꝛc. ꝛc. Enthält dieſes Schreiben auch ein gutes Theil alberner Prahlerei, ſo wird daſſelbe, an eine öffentliche Behörde gerichtet, doch bei der einmal vorhandenen Stimmung nicht verfehlen, einen gewiſſen Eindruck hervorzurufen. Und dann läßt daſſelbe erkennen, daß in den Zerſtörungs- taumel immer größere Kreiſe hereingeriſſen werden. Wie groß und wie allgemein die Panik iſt, davon war ich vorgeſtern Abend ſelber Zeuge. Ich ging an dem großen Magazin des Prin- temps vorüber, vor welchem ſich Abends immer ein ſtarker Verkehr entwickelt. Ein Paſſant hatte ein brennendes Streichholz auf die Erde gewor- fen. Bei dem Anblick beſſelben war das breite, eben noch von zahlreichen Fußgängern benutzte Trottoir plötzlich wie gefegt, Alles flüchtete auf auf die andere Seite. Erſt als ein „beherzter“ Mann die Flamme ausgetreten hatte, beruhigte ſich die Menge. Aus dem im ſtändigen Wachſen begriffenen Zorn, der ſich gegen den Jury geltend macht, welche den Angeklagten im Proceß Ravachol mildernde Umſtände bewilligte, darf man ſchlie- ßen, daß die Menge in der Verhängung des Todesurtheils ein Abſchreckungsmittel erblickt haben würde. Ob eine ſolche Annahme begründet iſt, mag dahingeſtellt bleiben. Die Anarchiſten, welche die Propaganda durch die That auf ihre mit beſorgten Mienen zuſchauende Geſichter. Es ſind die der Gefangenen, die ſich den Vor- gang nicht erklären können. Außer dem Meiſter, der die Maſchine lachend ſeine „Demoiſelle“ nennt, da ſie noch Jungfrau ſei, und ihre Vor- züge preiſt, nebſt ſeinen Geſellen befinden ſich noch zwei Gruppen von Perſonen auf dem Ge- fängnißhofe, jede aus vier Perſonen beſtehend. Die eine derſelben bilden die Doctoren Louis, erſter Leibarzt des Königs, Guillotin, ebenfalls Leibarzt, und Pinel und Cabans. Guillotin iſt aufgeregt und erklärt voll Eifer ſeinen Collegen die Vorzüge ſeiner Erfindung, ſieht ſich aber öfter unruhig um, als erwarte er Jemand oder etwas. In einer Ecke des Hofes befindet ſich die zweite Gruppe, ebenfalls aus vier Männern be- ſtehend, welche mit lebhaftem Intereſſe dem Auf- ſchlagen der Maſchine folgen, obgleich ſie ſich in beſcheidener Entfernung halten. Ihre Theilnahme iſt nur zu gerechtfertigt. Es iſt Samſon, der Henker von Paris, „Monsieur de Paris“ ge- nannt, ein Mann in mittleren Jahren, von hoher Geſtalt, mit offenen Zügen und freund- lichem Lächeln. Die drei Anderen ſind ſein Sohn und ſeine Gehilfen. Jetzt fährt ein von zwei Männern geſchobener Karren in den Hof. „Aha, da kommen ſie endlich!“ ruft Guil- lotin mit Befriedigung. Auf dem Karren liegen drei Säcke, und in jedem der Säcke be- findet ſich eine von der Hoſvitalverwaltung ge- ſchickte Leiche. Der Henker mit ſeinen Gehilfen bemächtigt ſich Einer der Leichen, ſchnallt ſie an das Fallbrett und ſteckt ihren Kopf durch die Oeffnung. Dann drückt er auf die Feder, das Meſſer ſauſt hinab und der Kopf rollt auf den Boden. Guillotin ſtößt einen Freudenruf aus und die Zuſchauer bezeigen ihm ihren Beifall. Der witzige Zimmermeiſter nennt die Maſchine jetzt „Madame“. Der zweite Verſuch ergab den- ſelben Erfolg; beim dritten jedoch wurde der Kopf nicht gänzlich abgetrennt und mußte erſt vollends mit dem Meſſer abgeſchnitten werden. Man legte jedoch dieſem Unfall, den man nicht der Maſchine zuſchrieb, wenig Bedeutung bei und ordnete „in Betracht der Ungeduld des Volkes“ bereits wenige Tage ſpäter, am 25. April, die Hinrichtung des als Dieb und Mörder verurtheilten Jacob Nikolaus Pelletier, gewiſſermaßen als Probe an einem Lebenden an. Obgleich auch dieſer Verſuch gut ausfiel, ſo ſollte denuoch das Mordinſtrument auf merk- würdige Weiſe zur unfehlbaren Vollkommenheit gebracht werden. Wie erwähnt, hatte das Fallbeil bei der dritten Leiche nicht ganz ſeine Schuldigkeit gethan und den Kopf derſelben nur zu drei Viertheilen abgetrennt. Man hatte dem Könige von dem Verſuch im Hofe von Bicétre geſprochen und ihm auch dieſen unangenehmen Zwiſchenfall nicht verhehlt. Die Sache intereſſirte Ludwig XVI., der ein guter Mechaniker und namentlich ein ge- ſchickter Schloſſer war. Er ließ ſich daher bei nächſter Gelegenheit von ſeinem Leibarzte, dem Dr. Louis, der bei jenem Verſuche zugegen geweſen, den Mechanismus der Maſchine erklären. Um ſeine Erklärung recht anſchaulich zu machen, nahm Dr. Louis einen Bleiſtift und verſuchte das In- ſtrument zu zeichnen. Aufmerkſam betrachtete der König die Zeichnung und ſagte dann, indem er mit dem Finger auf das Fallbeil deutete: „Hier liegt der Fehler; das Beil ſollte nicht von halb- mondförmiger, ſondern von dreieckiger Form und ſchräg wie eine Säge ſein; dann würde der Mechanismus niemals verſagen.“ Darauf nahm er den Bleiſtift und änderte damit die Zeichnung ab. In der That hatte er das Richtige getroffen und die Guillotine wurde nach ſeiner Angabe geändert. Neun Monate ſpäter fiel der Kopf des unglücklichen Königs unter dem Fallbeil, wie er es ſelbſt gezeichnet hatte. Adolf Wilbrandt’s neueſtes Bühnenwerk. Die „Wiener Abendpoſt“ berichtet über das jüngſt im Münchener Hoftheater zur Erſtauffüh- rung gelangte neue Schauſpiel Adolf Wilbrandt’s: „Der Lootſencommandeur.“ Es iſt nicht das erſte Mal, ſchreibt der Re- ferent des genannten Blattes, daß Adolf Wil- brandt ſeine neuen Stücke auf der Münchener Hofbühne zuerſt aufführen läßt, daß ſie von München aus den Weg über die anderen deut- ſchen Theater antreten. So war es ſeinerzeit mit den „Malern“, ſo mit „Marianne“, dem letzten Schauſpiele, das ſpäter umgetauft wurde in „Der Unterſtaatsſecretär.“ Nicht ſo heiter und liebens- würdig wie dieſe beiden Stücke iſt das neueſte,

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Zitationshilfe: Mährisches Tagblatt. Nr. 100, Olmütz, 02.05.1892, S. [2]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_maehrisches100_1892/2>, abgerufen am 25.04.2024.