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Märkische Blätter. Nr. 31. Hattingen, 17. April 1850.

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Märkische Blätter.
Wochenblatt


für belehrende und angenehme Unterhaltung.



ro 31.Hattingen, Mittwoch, den 17. April 1850.


[Beginn Spaltensatz]
Revolution und Wahnsinn.

Dr. Brierre de Boismont, Arzt an einer Privat=Jr-
renanstalt zu Paris, hat in die " Union medicale " einen
Brief einrücken lassen, worin er unter Anderm erzählt:
"Kaum waren im Februar die letzten Schüsse gefallen,
als schon mehre Opfer dieser Revolution, welche, wie
Goudchaur treffend bemerkte, viel zu schnell gemacht wor-
den war, in meine Anstalt gebracht wurden. Diese ersten
Patienten waren meist traurig, melancholisch und nieder-
geschlagen. Jhre firen Jdeen waren gräßlicher Art, indem
sie beständig gemordet zu werden befürchteten. Einer da-
runter, ein sehr gelehrter Mann und Verfasser mehrer
wissenschaftlichen Werke, saß bewegungslos da, blickte starr
vor sich hin und sprach kaum ein Wort; er glaubte fest,
man würde ihn in eine Cloake werfen und dort erwür-
gen. Ein anderer rief beständig: ""Da sind sie; sie schla-
gen die Thür ein und wollen mich packen und erschie-
ßen!"" Andere bildeten sich ein, sie hätten drohende Stim-
men gehört, die ihnen zugerufen, sie würden sammt ihren
Familien guillotinirt und erwürgt werden, oder sie hörten
beständig Flintenschüsse. Die Patienten dieser Klasse wa-
ren meist ehrbare Professionisten, und manche hatten sich
durch Fleiß und Sparsamkeit einiges Vermögen gesam-
melt, das sie gern in Frieden genossen hätten. Um dem
gefürchteten Unglücke zu entgehen, suchten manche dieser
Patienten sich das Leben zu nehmen, und sie mußten auf's
genaueste bewacht werden, damit sie dieses Vorhaben nicht
ausführen konnten. Einige darunter, welche diese strenge
Bewachung merkten, beschlossen, Hungers zu sterben, und
beharrten mit wilder Energie auf ihrem Vorsatze. Unter
sechs von diesen, welche sich alle für große Verbrecher
oder von ihren Nachbarn ruinirt oder verrathen hielten,
starben zwei trotz der Anwendung des Schlundrohres.
Einer dieser beiden litt an einer der auffallendsten Täu-
schungen, die mir je vorgekommen sind. Er hatte sich
überredet, daß seine Speiseröhre verstopft und keine Speise
durch dieselbe hinabzubringen sei. ""Wie soll ich leben,""
pflegte er mir zu sagen, ""wenn Sie mir das Essen in
die Luftröhre hineinstopfen? Sie ersticken mich, und ich
werde bald todt sein."" -- Einige Zeit später erhielten
wir indeß eine andere Art von Patienten, deren Geistes-
zerstörung eher von der Einwirkung der neuen politischen
Jdeen herzurühren schien. Diese waren nicht niedergeschla-
gen und traurig, hatten vielmehr ein stolzes, heiteres,
[Spaltenumbruch] enthusiastisches Ansehen und waren ungemein geschwätzig.
Sie schrieben beständig Abhandlungen, arbeiteten Consti-
tionen aus u. s. w., gaben sich für große Männer, Va-
terlandsbefreier aus und legten sich den Rang von
Generalen, Ministern bei. Man hat schon lange be-
hauptet, daß der Wahnsinn häufig das Gepräge des
Stolzes an sich trägt; nie habe ich die Richtigkeit dieser
Bemerkungen so sehr bestätigt gefunden, als bei den durch
die Februar=Revolution in Wahnsinn verfallenen Perso-
nen, namentlich solchen, welche, durch socialistische, com-
munistische und reformirende Jdeen erhitzt, sich für beru-
fen hielten, in der Welt eine hervorragende Rolle zu
spielen. Als ich vor wenigen Tagen mit einem meiner
Collegen die Krankensäle durchwanderte, hielten wir
uns bei einem dieser Patienten auf, der, ur-
sprünglich von milder und friedlicher Gemüthsart, nun
ruhig und enthusiastisch geworden war, da ihm die auf-
geregte Zeit von seinen gewöhnlichen Beschäftigung abge-
zogen und auf die Straßen, in die Clubs und unter die
Arbeiter getrieben hatte. Er äußerte Folgendes: ""Jch
bemerke, daß die Leute mich für wahnsinnig ausgeben;
allein ich bin stolz auf den Ruhm, der meinen Namen
umstrahlen wird, wenn mir die Nachwelt einst Gerech-
tigkeit widerfahren läßt und fragt, wie es möglich war,
daß der Urheber so nützlicher und menschenfreundlicher
Ansichten für wahnsinnig gelten konnte. Warum sollte
ich mich aber über solche Ungerechtigkeit betrüben? Jst es
doch Tasso nicht besser ergangen!"" -- Die furchtbarere
Juni=Revolution hatte auch ungleich furchtbarere Folgen,
und die Gemächer des Herrn Brierre füllten sich so zu
sagen von dem ersten Momente an, in welchem der Bar-
rikadenkampf begann, und zwar ließen sich die aufgenom-
menen Wahnsinnigen nach der Art ihrer fixen Jdeen ganz
deutlich in zwei Gruppen sondern, nemlich in solche,
welche sich entweder der verzweiflungsvollsten, herzzerrei-
ßendsten Trauer, oder der wildesten und blutdürstigsten
Wuth hingaben." -- Dieser zweite Theil des Berichtes
ist der umfangreichere; da es uns aber genügt, auf diese
neue Seite einer Revolution hingedeutet zu haben, erspa-
ren wir unseren Lesern gern die Schilderung der grau-
senerregenden Gemälde.



[Ende Spaltensatz]
Märkische Blätter.
Wochenblatt


für belehrende und angenehme Unterhaltung.



ro 31.Hattingen, Mittwoch, den 17. April 1850.


[Beginn Spaltensatz]
Revolution und Wahnsinn.

Dr. Brierre de Boismont, Arzt an einer Privat=Jr-
renanstalt zu Paris, hat in die „ Union medicale “ einen
Brief einrücken lassen, worin er unter Anderm erzählt:
„Kaum waren im Februar die letzten Schüsse gefallen,
als schon mehre Opfer dieser Revolution, welche, wie
Goudchaur treffend bemerkte, viel zu schnell gemacht wor-
den war, in meine Anstalt gebracht wurden. Diese ersten
Patienten waren meist traurig, melancholisch und nieder-
geschlagen. Jhre firen Jdeen waren gräßlicher Art, indem
sie beständig gemordet zu werden befürchteten. Einer da-
runter, ein sehr gelehrter Mann und Verfasser mehrer
wissenschaftlichen Werke, saß bewegungslos da, blickte starr
vor sich hin und sprach kaum ein Wort; er glaubte fest,
man würde ihn in eine Cloake werfen und dort erwür-
gen. Ein anderer rief beständig: „„Da sind sie; sie schla-
gen die Thür ein und wollen mich packen und erschie-
ßen!““ Andere bildeten sich ein, sie hätten drohende Stim-
men gehört, die ihnen zugerufen, sie würden sammt ihren
Familien guillotinirt und erwürgt werden, oder sie hörten
beständig Flintenschüsse. Die Patienten dieser Klasse wa-
ren meist ehrbare Professionisten, und manche hatten sich
durch Fleiß und Sparsamkeit einiges Vermögen gesam-
melt, das sie gern in Frieden genossen hätten. Um dem
gefürchteten Unglücke zu entgehen, suchten manche dieser
Patienten sich das Leben zu nehmen, und sie mußten auf's
genaueste bewacht werden, damit sie dieses Vorhaben nicht
ausführen konnten. Einige darunter, welche diese strenge
Bewachung merkten, beschlossen, Hungers zu sterben, und
beharrten mit wilder Energie auf ihrem Vorsatze. Unter
sechs von diesen, welche sich alle für große Verbrecher
oder von ihren Nachbarn ruinirt oder verrathen hielten,
starben zwei trotz der Anwendung des Schlundrohres.
Einer dieser beiden litt an einer der auffallendsten Täu-
schungen, die mir je vorgekommen sind. Er hatte sich
überredet, daß seine Speiseröhre verstopft und keine Speise
durch dieselbe hinabzubringen sei. „„Wie soll ich leben,““
pflegte er mir zu sagen, „„wenn Sie mir das Essen in
die Luftröhre hineinstopfen? Sie ersticken mich, und ich
werde bald todt sein.““ — Einige Zeit später erhielten
wir indeß eine andere Art von Patienten, deren Geistes-
zerstörung eher von der Einwirkung der neuen politischen
Jdeen herzurühren schien. Diese waren nicht niedergeschla-
gen und traurig, hatten vielmehr ein stolzes, heiteres,
[Spaltenumbruch] enthusiastisches Ansehen und waren ungemein geschwätzig.
Sie schrieben beständig Abhandlungen, arbeiteten Consti-
tionen aus u. s. w., gaben sich für große Männer, Va-
terlandsbefreier aus und legten sich den Rang von
Generalen, Ministern bei. Man hat schon lange be-
hauptet, daß der Wahnsinn häufig das Gepräge des
Stolzes an sich trägt; nie habe ich die Richtigkeit dieser
Bemerkungen so sehr bestätigt gefunden, als bei den durch
die Februar=Revolution in Wahnsinn verfallenen Perso-
nen, namentlich solchen, welche, durch socialistische, com-
munistische und reformirende Jdeen erhitzt, sich für beru-
fen hielten, in der Welt eine hervorragende Rolle zu
spielen. Als ich vor wenigen Tagen mit einem meiner
Collegen die Krankensäle durchwanderte, hielten wir
uns bei einem dieser Patienten auf, der, ur-
sprünglich von milder und friedlicher Gemüthsart, nun
ruhig und enthusiastisch geworden war, da ihm die auf-
geregte Zeit von seinen gewöhnlichen Beschäftigung abge-
zogen und auf die Straßen, in die Clubs und unter die
Arbeiter getrieben hatte. Er äußerte Folgendes: „„Jch
bemerke, daß die Leute mich für wahnsinnig ausgeben;
allein ich bin stolz auf den Ruhm, der meinen Namen
umstrahlen wird, wenn mir die Nachwelt einst Gerech-
tigkeit widerfahren läßt und fragt, wie es möglich war,
daß der Urheber so nützlicher und menschenfreundlicher
Ansichten für wahnsinnig gelten konnte. Warum sollte
ich mich aber über solche Ungerechtigkeit betrüben? Jst es
doch Tasso nicht besser ergangen!““ — Die furchtbarere
Juni=Revolution hatte auch ungleich furchtbarere Folgen,
und die Gemächer des Herrn Brierre füllten sich so zu
sagen von dem ersten Momente an, in welchem der Bar-
rikadenkampf begann, und zwar ließen sich die aufgenom-
menen Wahnsinnigen nach der Art ihrer fixen Jdeen ganz
deutlich in zwei Gruppen sondern, nemlich in solche,
welche sich entweder der verzweiflungsvollsten, herzzerrei-
ßendsten Trauer, oder der wildesten und blutdürstigsten
Wuth hingaben.“ — Dieser zweite Theil des Berichtes
ist der umfangreichere; da es uns aber genügt, auf diese
neue Seite einer Revolution hingedeutet zu haben, erspa-
ren wir unseren Lesern gern die Schilderung der grau-
senerregenden Gemälde.



[Ende Spaltensatz]
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Zitationshilfe: Märkische Blätter. Nr. 31. Hattingen, 17. April 1850, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_maerkische031_1850/1>, abgerufen am 13.05.2024.