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Reichspost. Nr. 18, Wien, 22.01.1901.

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VIII., Strozzigasse 41.




Stadtexpedition I., Wollzeile 15.
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Unfrankirte Briefe werden nicht an-
genommen; Manuscripte werden
nicht zurückgestellt. Unverschlossene
Reclamationen sind portofrei.




Inserate
werden im Ankündigungs-
Bureau
VIII., Strozzigasse
41, sowie in allen Annoncenbureaux
des In- und Auslandes angenommen.




Abonnements werden ange-
nommen außer in den Expeditionen
bei J. Heindl, I., Stephansplatz 7.




Erscheint täglich, 6 Uhr Nach-
mittags, mit Ausnahme der Sonn-
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Reichspost.
Unabhängiges Tagblatt für das christliche Volk Oesterreich-Ungarns.

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Bei Abholung in unserer Administra-
tion ganzjährig 24 K monatlich 2 K

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Telephon 1828.




VIII. Jahrgang. Wien, Dienstag, 22. Jänner 1901. Nr. 18.



[Spaltenumbruch]
Königin Virtoria von
England

liegt im Sterben. Das war eine -- Frau! Und sie
soll nicht mehr sein? Das war eine -- Königin, und
sie soll nicht mehr den Thron Englands zieren?
Zweiundachtzig Jahre des Lebens hat der Herr dieser
Frau gegeben, und auf dreiundsechzig Jahre König-
thum kann ihr brechendes Auge zurück schauen, und
dieses Auge soll sich jetzt auf immer schließen? Eng-
lands Größe ist ihre Größe und England ward groß.
weil es eine solche große Königin besaß. Victoria
von England war als Frau Königin und als
Königiu Frau -- das ist das Porträt ihres Charakters.
Daß sie das Ideal einer constitutionellen Königin
war, ist die Größe dieser Frau, und daß sie das
Ideal einer Frau war, die Größe dieser Königin.
Man kann sich England gar nicht mehr denken ohne
sie, wie wir uns Oesterreich kaum denken können ohne
Franz Josef I. Und doch regiert er erst 52 Jahre,
sie aber führt das Scepter Großbritanniens ein
ganzes Jahrzehnt länger als er. Und erst Englands
Volk! Wie verehrte es diese Königin, die ihm als
Frau fast noch näher dem Herzen stand denn als
Königin? Ein Vorbild weiblicher Tugend und aller
Tngenden einer constitutioncllen Herrscherin leuchtete
sie von der steilen Höhe des Thrones hernieder, und
mit ihrem Volke denkend und fühlend, stand sie doch
mitten unter ihm, die größte Engländerin. Sie hat
England groß gemacht. Als die jugendliche Königin
Victoria im Jahre 1837 den Thron be-
stieg, streckte sie ihr Scepter aus über ein
Reich von 2,700.000 englischen Quadratmeilen
mit 139,400.000 Einwohnern. Heute ängstigen sich
um ihren Tod nahezu 400 Millionen ihrer Unter-
thanen in dem britischen Reiche, das zu einem Um-
fange von beinahe 11 Millionen Quadratmeilen sich
erweitert hat. Englands Landbesitz hat sich in den
sechs Jahrzehnten der Regierung Victorias also fast
vervierfacht, und die Zahl ihrer Unterthanen hat sich
verdreifacht. Daß die englische Politik des Länder-
erwerbes vor dem Forum der öffentlichen Moral
nicht in Allem einwandfrei dasteht, dafür die Königin
verantwortlich zu machen, geht wohl nicht an;
ist doch die Verantwortlichkeit einer Königin in
England ganz besonders eingeengt durch eine ihr
Wirken in den engsten Pflichtkreis bannende
Constitution. Und das wird ihr ja Englands
Volk noch in das Grab hinein nachrühmen, daß sie,
ob die politischen Richtungen der Cabinette und
Parteien sich noch so sehr ablösten, ob Whigs oder
Tories in der Herrschaft sich folgten, ob conservativ
oder liberal Trumpf war, die Königin das Princip
der Einigkeit der Nation und der freiheitlichen Ent-
wickelung verkörperte. Es wäre unstatthaft auch am
Todesbette dieser großen Herrscherin, alles, was unter
ihrer Regierung in England geschah und von
England unternommen wurde, hochzupreisen oder
auch nur zu eutschuldigen. Die moderne Politik des
nackten Egoismus -- kein Staat hat sie so zum
Princip erhoben und in die Praxis umgesetzt wie
England. Der Ausrottungs-Krieg gegen Transvaal
steht ja dafür heute vor Aller Augen als Zeuge mit
blutüberströmten Händen da. Wie weit aber die Ver-
antwortlichkeit der Königin für all dies vor dem Throne
der ewig waltenden Gerechtigkeit reicht, wer wagte
das zu entscheiden? Ihrem milden Herzen, das so
ganz ein Frauenherz war, entsprach eine solche
[P]olitik gewiß nicht; und wer weiß, ob nicht die
[Spaltenumbruch] traurigen Nachrichten von dem nicht endenwollenden
blutigen Kriege in Transvaal sich auf ihr Gemüth
gelegt und sie jener düsteren Schwermuth überliefert
hatten, die sie in der letzten Zeit befiel, so daß man
sie oft heimlich weinend fand, und ob nicht dieser Seelen-
schmerz die Ursache der Schwächung ihrer sonst so
ausdauernden Körperkräfte war, welche sie an die
Schwelle des Todes gebracht.

Das war eine Königin, die das Königthum
würdig repräsentirte, die ihres Volkes Wohl vor allem
im Auge hatte, da sie es im Herzen trug, die als
Herrscherin war eine Frau, hilfreich, milde und gut und
von jener vorbildlichen Reinheit, die ihr, ob sie auch
mehrfach Mutter war, eher den Titel der jung-
fräulichen Königin verdient hätte als jener Elisabeth.
Unzählig sind die Geschichten, die im englischen Volk
über ihre Gutherzigkeit und ihr echt menschliches,
ganz frauenhaftes Mitleid mit des Volkes Leid cur-
siren. Wie sie schon als kindliche Prinzessiu den Kna-
ben, der das Unglück hatte in der Nähe von Wool-
bridge-Cottage beim Spatzenschießen dicht über ihr
Haupt hinwegzuschießen, statt angedrohter Peitschen-
hiebe mit einem Kusse ihrer kindlichen Lippen für die
ausgestandene Furcht entschädigte, so zeigte sich ihr
gutes Herz auch als Königin. Als ihr der zwischen
England und Madagaska[r] abzuschließende Handels-
vertrag zur Unterschrift vorgelegt wurde, bemerkte die
Königin, "daß darin keinerlei Maßregel für die
Sicherheit des Lebens der Christen, ihrer Unter-
thanen vorgesehen sei." "Ich fürchte", erwiderte
der Minister, "eine solche Clausel wird nicht
angenommen werden, da das Volk fanatisch und
blutdürstig ist." "Wir wollen einmal sehen", ent-
gegnete Victoria und schrieb auf den Rand des Do-
cumentes: "Königin Victoria verlangt als persön-
liche Gunst für sich selbst, daß die Königin von
Madagascar keine Verfolgung der Christen gestattet."
Als der Vertrag zurückkam, enthielt er die nachstehen-
den Worte: "In Uebereinstimmung mit dem Wunsche
der Königin Victoria verpflichtet sich die Königin
von Madagascar, keinerlei Christenverfolgungen in
ihrem Reiche zu gestatten."

Und so war es auch das liebevolle und den
inneren Frieden ihres Volkes über Alles schätzende
Herz dieser edlen Frau und Königin, der die Katho-
liken des protestantischen England die freie Aus-
übung ihrer Religion, die ungehinderte Thätigkeit
ihrer Orden nnd Congregationen, den unge-
ahnt so rasch sich entfaltenden Aufschwung
katholischen Kirche verdankten.

Wie England in social- und wirthschaftlicher
Beziehung unter ihrer Regierung vielfach vorbildlich
geworden, wie sich unter ihr Englands Handel ent-
wickelt hat, das zu schildern ist an dieser Stelle nicht
möglich. Königin Victoria war es, die speciell allen
humanitären Bestrebungen das verständniß- und liebe-
vollste Interesse zuwandte.

Deutschland vor Allem wird am Sarge dieser
Königin vor allen andern Staaten außer England,
zumeist trauern. Sie gab ja dem ritterlichen Kaiser
Friedrich III. ihre Tochter zur Gemahlin, und deren
Kind ist der jugendkräftige Kaiser, der an der Spitze
des jungen deutschen Reiches steht, dessen Glanz auch
über die Meere tragend, wo einst England allein
herrschte und eroberte. Trotz aller Differenzen, die
zwischen England und Deutschland die Politik ver-
nrsacht, ist die Freundschaft beider Mächte wohl
vorübergehend getrübt, nicht aber gestört worden.
Und Kaiser Wilhelm II. war es, ihr Enkelkind, der,
[Spaltenumbruch] die Feierlichkeiten des preußischen Kronjubiläums
unterbrechend, mit dem Hofzuge an das Sterbebett
seiner königlichen Großmutter geeilt ist.

Eine ganze Welt harrt mit banger Trauer und
trauerndem Bangen der Kunde, ob Königin Victoria
der Agonie erlegen ist oder noch durch ein Wunder
des Himmels dem Leben erhalten wird. Wie immer
die Botschaft lauten mag, sie wird das ruhmreiche
Andenken dieser Thron-Zierde des abgelaufenen Jahr-
hunderts erneuern, und eine harmonische Stimme
wird auf dem ganzen Erdkreise erschallen: "Es starb
eine große Frau, eine große Königin".




Wackelige Leute.

Ein früherer Minister fragte in der letzten Reichs-
rathssession einen Abgeordneten: "A propos, wieviel
Abgeordnete zählt die Deutsche Volkspartei?" -- "Ein-
undvierzig, Excellenz!" -- "Ah ja, ganz recht, sie hat
ja einundvierzig Fractionen." Dieser Sarkasmus
scheint auch leider für das neue Parlament wahr
zu werden, einig war die Deutsche Volkspartei stets
nur in der Angst vor den Radicalen. Das Elend
der Deutschen Volkspartei im letzten Wahlkampfe hätte
Steine erweichen können. Die Radicalen schienen ihre
ganze Aufgabe darin zu sehen, ihr das Leben zu ver-
sauern. In Schlesien stellten sie gegen die ältesten
Parlamentarier der Deutschen Volkspartei Gegen-
candidaten auf, in Steiermark machten sie selbst
Herrn Walz, der sich um das Sitzenbleiben bei
Loyalitäts-Kundgebungen so große Verdienste
erworben hatte, durch die Gegeu-Candidatur
Berger Schwierigkeiten, und in Salzburg wurde sogar
der ewige Secundant deutschradicaler Paukanten, Herr
Dr. Sylvester von einem hitzigen deutschradicalen
Gegencandidaten angegriffen. Die deutsche Volkspartei
mußte sich überall die schimpflichste Behandlung ge-
fallen lassen und bot dabei das Bild hilfloser Ver-
lassenheit. Kaum sind die Wahleu vorüber, so wirft
sich nun die Deutsche Volkspartei vor den Deutsch-
radicalen auf die Knie, demüthiglich bittend, ihre
Freundschaft huldreichst anzunehmen. In eincr Reihe
von Organen der Deutschen Volkspartei hören wir
jetzt die Melodie variiren, wie süß an der Brust des
Herrn K. H. Wolf zu ruhen ist, desselben K. H. Wolf,
der die "abgetakelte Professorenpartei" noch vor we-
nigeu Wochen mit der Nilpferdpeitsche bearbeitete.

Am schönsten hat die Anbiederung ein "neugewählter"
Abgeordneter der Deutschen Volkspartei getroffen,
der augenscheinlich um seinen Antisemitismus
zu beweisen, die "Neue Freie Presse" als sein
Organ und Sprachrohr auserkoren hat. Dieser Herr
"antisemitische" Abgeordnete bespricht also in dem
Wiener Oberjudenblatte seine Erfahrungen aus der
Wahlzeit: Seine Wählerschaft habe einstimmig
das Verlangen nach der Arbeitsfähigkeit des Parla-
mentes ausgesprochen, und er werde deshalb zu jenen
Abgeordneten zählen, welche Alles aufbieten,
um das Parlament arbeitsfähig zu machen. Der
Herr hält es weiters nach seinen "Erfahrungen" für
nothwendig, daß die Deutsche Volkspartei "mit der
christlich-socialen Partei unter gar keinen
Umständen in die Gemeinbürgschaft gehe,"

und es wäre "im Interesse der Sache(!) gelegen, wenn
ein Zusammenarbeiten mit den anderen freiheit-
lichen Parteien,
speciell mit der radical-
nationalen
Partei ehestens zu Stande käme." --
Das Herz des "neugewählten" Abgeordneten zieht
ihn also in eine Vereinigung mit den Liberalen und


[Abbildung] Die heutige Nummer ist 12 Seiten stark. [Abbildung]
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Redaction, Adminiſtration
Expedition
und Druckerei:
VIII., Strozzigaſſe 41.




Stadtexpedition I., Wollzeile 15.
Zeitungsbureau Weis.




Unfrankirte Briefe werden nicht an-
genommen; Manuſcripte werden
nicht zurückgeſtellt. Unverſchloſſene
Reclamationen ſind portofrei.




Inſerate
werden im Ankündigungs-
Bureau
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41, ſowie in allen Annoncenbureaux
des In- und Auslandes angenommen.




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nommen außer in den Expeditionen
bei J. Heindl, I., Stephansplatz 7.




Erſcheint täglich, 6 Uhr Nach-
mittags, mit Ausnahme der Sonn-
und Feiertage.


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Reichspoſt.
Unabhängiges Tagblatt für das chriſtliche Volk Oeſterreich-Ungarns.

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Preis 8 h



Bezugspreiſe:
Für Wien mit Zuſtellung ins Hau
ganzjährig ...... 28 K
halbjährig ...... 14 K
vierteljährig ...... 7 K
monatlich ..... 2 K 35 h

Einzelne Nummern 8 h, per Poſt
10 h

Bei Abholung in unſerer Adminiſtra-
tion ganzjährig 24 K monatlich 2 K

Für: Oeſterreich-Ungarn:
ganzjährig ...... 32 K
halbjährig ...... 16 K
vierteljährig ...... 8 K
monatlich ...... 2 K 75 h

Für: Deutſchland:
vierteljährig ... 9 K 50 h
oder 8 Mark.

Länder des Weltpoſtvereines
vierteljähr. 12 K oder 10 Mark.




Telephon 1828.




VIII. Jahrgang. Wien, Dienſtag, 22. Jänner 1901. Nr. 18.



[Spaltenumbruch]
Königin Virtoria von
England

liegt im Sterben. Das war eine — Frau! Und ſie
ſoll nicht mehr ſein? Das war eine — Königin, und
ſie ſoll nicht mehr den Thron Englands zieren?
Zweiundachtzig Jahre des Lebens hat der Herr dieſer
Frau gegeben, und auf dreiundſechzig Jahre König-
thum kann ihr brechendes Auge zurück ſchauen, und
dieſes Auge ſoll ſich jetzt auf immer ſchließen? Eng-
lands Größe iſt ihre Größe und England ward groß.
weil es eine ſolche große Königin beſaß. Victoria
von England war als Frau Königin und als
Königiu Frau — das iſt das Porträt ihres Charakters.
Daß ſie das Ideal einer conſtitutionellen Königin
war, iſt die Größe dieſer Frau, und daß ſie das
Ideal einer Frau war, die Größe dieſer Königin.
Man kann ſich England gar nicht mehr denken ohne
ſie, wie wir uns Oeſterreich kaum denken können ohne
Franz Joſef I. Und doch regiert er erſt 52 Jahre,
ſie aber führt das Scepter Großbritanniens ein
ganzes Jahrzehnt länger als er. Und erſt Englands
Volk! Wie verehrte es dieſe Königin, die ihm als
Frau faſt noch näher dem Herzen ſtand denn als
Königin? Ein Vorbild weiblicher Tugend und aller
Tngenden einer conſtitutioncllen Herrſcherin leuchtete
ſie von der ſteilen Höhe des Thrones hernieder, und
mit ihrem Volke denkend und fühlend, ſtand ſie doch
mitten unter ihm, die größte Engländerin. Sie hat
England groß gemacht. Als die jugendliche Königin
Victoria im Jahre 1837 den Thron be-
ſtieg, ſtreckte ſie ihr Scepter aus über ein
Reich von 2,700.000 engliſchen Quadratmeilen
mit 139,400.000 Einwohnern. Heute ängſtigen ſich
um ihren Tod nahezu 400 Millionen ihrer Unter-
thanen in dem britiſchen Reiche, das zu einem Um-
fange von beinahe 11 Millionen Quadratmeilen ſich
erweitert hat. Englands Landbeſitz hat ſich in den
ſechs Jahrzehnten der Regierung Victorias alſo faſt
vervierfacht, und die Zahl ihrer Unterthanen hat ſich
verdreifacht. Daß die engliſche Politik des Länder-
erwerbes vor dem Forum der öffentlichen Moral
nicht in Allem einwandfrei daſteht, dafür die Königin
verantwortlich zu machen, geht wohl nicht an;
iſt doch die Verantwortlichkeit einer Königin in
England ganz beſonders eingeengt durch eine ihr
Wirken in den engſten Pflichtkreis bannende
Conſtitution. Und das wird ihr ja Englands
Volk noch in das Grab hinein nachrühmen, daß ſie,
ob die politiſchen Richtungen der Cabinette und
Parteien ſich noch ſo ſehr ablöſten, ob Whigs oder
Tories in der Herrſchaft ſich folgten, ob conſervativ
oder liberal Trumpf war, die Königin das Princip
der Einigkeit der Nation und der freiheitlichen Ent-
wickelung verkörperte. Es wäre unſtatthaft auch am
Todesbette dieſer großen Herrſcherin, alles, was unter
ihrer Regierung in England geſchah und von
England unternommen wurde, hochzupreiſen oder
auch nur zu eutſchuldigen. Die moderne Politik des
nackten Egoismus — kein Staat hat ſie ſo zum
Princip erhoben und in die Praxis umgeſetzt wie
England. Der Ausrottungs-Krieg gegen Transvaal
ſteht ja dafür heute vor Aller Augen als Zeuge mit
blutüberſtrömten Händen da. Wie weit aber die Ver-
antwortlichkeit der Königin für all dies vor dem Throne
der ewig waltenden Gerechtigkeit reicht, wer wagte
das zu entſcheiden? Ihrem milden Herzen, das ſo
ganz ein Frauenherz war, entſprach eine ſolche
[P]olitik gewiß nicht; und wer weiß, ob nicht die
[Spaltenumbruch] traurigen Nachrichten von dem nicht endenwollenden
blutigen Kriege in Transvaal ſich auf ihr Gemüth
gelegt und ſie jener düſteren Schwermuth überliefert
hatten, die ſie in der letzten Zeit befiel, ſo daß man
ſie oft heimlich weinend fand, und ob nicht dieſer Seelen-
ſchmerz die Urſache der Schwächung ihrer ſonſt ſo
ausdauernden Körperkräfte war, welche ſie an die
Schwelle des Todes gebracht.

Das war eine Königin, die das Königthum
würdig repräſentirte, die ihres Volkes Wohl vor allem
im Auge hatte, da ſie es im Herzen trug, die als
Herrſcherin war eine Frau, hilfreich, milde und gut und
von jener vorbildlichen Reinheit, die ihr, ob ſie auch
mehrfach Mutter war, eher den Titel der jung-
fräulichen Königin verdient hätte als jener Eliſabeth.
Unzählig ſind die Geſchichten, die im engliſchen Volk
über ihre Gutherzigkeit und ihr echt menſchliches,
ganz frauenhaftes Mitleid mit des Volkes Leid cur-
ſiren. Wie ſie ſchon als kindliche Prinzeſſiu den Kna-
ben, der das Unglück hatte in der Nähe von Wool-
bridge-Cottage beim Spatzenſchießen dicht über ihr
Haupt hinwegzuſchießen, ſtatt angedrohter Peitſchen-
hiebe mit einem Kuſſe ihrer kindlichen Lippen für die
ausgeſtandene Furcht entſchädigte, ſo zeigte ſich ihr
gutes Herz auch als Königin. Als ihr der zwiſchen
England und Madagaska[r] abzuſchließende Handels-
vertrag zur Unterſchrift vorgelegt wurde, bemerkte die
Königin, „daß darin keinerlei Maßregel für die
Sicherheit des Lebens der Chriſten, ihrer Unter-
thanen vorgeſehen ſei.“ „Ich fürchte“, erwiderte
der Miniſter, „eine ſolche Clauſel wird nicht
angenommen werden, da das Volk fanatiſch und
blutdürſtig iſt.“ „Wir wollen einmal ſehen“, ent-
gegnete Victoria und ſchrieb auf den Rand des Do-
cumentes: „Königin Victoria verlangt als perſön-
liche Gunſt für ſich ſelbſt, daß die Königin von
Madagascar keine Verfolgung der Chriſten geſtattet.“
Als der Vertrag zurückkam, enthielt er die nachſtehen-
den Worte: „In Uebereinſtimmung mit dem Wunſche
der Königin Victoria verpflichtet ſich die Königin
von Madagascar, keinerlei Chriſtenverfolgungen in
ihrem Reiche zu geſtatten.“

Und ſo war es auch das liebevolle und den
inneren Frieden ihres Volkes über Alles ſchätzende
Herz dieſer edlen Frau und Königin, der die Katho-
liken des proteſtantiſchen England die freie Aus-
übung ihrer Religion, die ungehinderte Thätigkeit
ihrer Orden nnd Congregationen, den unge-
ahnt ſo raſch ſich entfaltenden Aufſchwung
katholiſchen Kirche verdankten.

Wie England in ſocial- und wirthſchaftlicher
Beziehung unter ihrer Regierung vielfach vorbildlich
geworden, wie ſich unter ihr Englands Handel ent-
wickelt hat, das zu ſchildern iſt an dieſer Stelle nicht
möglich. Königin Victoria war es, die ſpeciell allen
humanitären Beſtrebungen das verſtändniß- und liebe-
vollſte Intereſſe zuwandte.

Deutſchland vor Allem wird am Sarge dieſer
Königin vor allen andern Staaten außer England,
zumeiſt trauern. Sie gab ja dem ritterlichen Kaiſer
Friedrich III. ihre Tochter zur Gemahlin, und deren
Kind iſt der jugendkräftige Kaiſer, der an der Spitze
des jungen deutſchen Reiches ſteht, deſſen Glanz auch
über die Meere tragend, wo einſt England allein
herrſchte und eroberte. Trotz aller Differenzen, die
zwiſchen England und Deutſchland die Politik ver-
nrſacht, iſt die Freundſchaft beider Mächte wohl
vorübergehend getrübt, nicht aber geſtört worden.
Und Kaiſer Wilhelm II. war es, ihr Enkelkind, der,
[Spaltenumbruch] die Feierlichkeiten des preußiſchen Kronjubiläums
unterbrechend, mit dem Hofzuge an das Sterbebett
ſeiner königlichen Großmutter geeilt iſt.

Eine ganze Welt harrt mit banger Trauer und
trauerndem Bangen der Kunde, ob Königin Victoria
der Agonie erlegen iſt oder noch durch ein Wunder
des Himmels dem Leben erhalten wird. Wie immer
die Botſchaft lauten mag, ſie wird das ruhmreiche
Andenken dieſer Thron-Zierde des abgelaufenen Jahr-
hunderts erneuern, und eine harmoniſche Stimme
wird auf dem ganzen Erdkreiſe erſchallen: „Es ſtarb
eine große Frau, eine große Königin“.




Wackelige Leute.

Ein früherer Miniſter fragte in der letzten Reichs-
rathsſeſſion einen Abgeordneten: „A propos, wieviel
Abgeordnete zählt die Deutſche Volkspartei?“ — „Ein-
undvierzig, Excellenz!“ — „Ah ja, ganz recht, ſie hat
ja einundvierzig Fractionen.“ Dieſer Sarkasmus
ſcheint auch leider für das neue Parlament wahr
zu werden, einig war die Deutſche Volkspartei ſtets
nur in der Angſt vor den Radicalen. Das Elend
der Deutſchen Volkspartei im letzten Wahlkampfe hätte
Steine erweichen können. Die Radicalen ſchienen ihre
ganze Aufgabe darin zu ſehen, ihr das Leben zu ver-
ſauern. In Schleſien ſtellten ſie gegen die älteſten
Parlamentarier der Deutſchen Volkspartei Gegen-
candidaten auf, in Steiermark machten ſie ſelbſt
Herrn Walz, der ſich um das Sitzenbleiben bei
Loyalitäts-Kundgebungen ſo große Verdienſte
erworben hatte, durch die Gegeu-Candidatur
Berger Schwierigkeiten, und in Salzburg wurde ſogar
der ewige Secundant deutſchradicaler Paukanten, Herr
Dr. Sylveſter von einem hitzigen deutſchradicalen
Gegencandidaten angegriffen. Die deutſche Volkspartei
mußte ſich überall die ſchimpflichſte Behandlung ge-
fallen laſſen und bot dabei das Bild hilfloſer Ver-
laſſenheit. Kaum ſind die Wahleu vorüber, ſo wirft
ſich nun die Deutſche Volkspartei vor den Deutſch-
radicalen auf die Knie, demüthiglich bittend, ihre
Freundſchaft huldreichſt anzunehmen. In eincr Reihe
von Organen der Deutſchen Volkspartei hören wir
jetzt die Melodie variiren, wie ſüß an der Bruſt des
Herrn K. H. Wolf zu ruhen iſt, desſelben K. H. Wolf,
der die „abgetakelte Profeſſorenpartei“ noch vor we-
nigeu Wochen mit der Nilpferdpeitſche bearbeitete.

Am ſchönſten hat die Anbiederung ein „neugewählter“
Abgeordneter der Deutſchen Volkspartei getroffen,
der augenſcheinlich um ſeinen Antiſemitismus
zu beweiſen, die „Neue Freie Preſſe“ als ſein
Organ und Sprachrohr auserkoren hat. Dieſer Herr
„antiſemitiſche“ Abgeordnete beſpricht alſo in dem
Wiener Oberjudenblatte ſeine Erfahrungen aus der
Wahlzeit: Seine Wählerſchaft habe einſtimmig
das Verlangen nach der Arbeitsfähigkeit des Parla-
mentes ausgeſprochen, und er werde deshalb zu jenen
Abgeordneten zählen, welche Alles aufbieten,
um das Parlament arbeitsfähig zu machen. Der
Herr hält es weiters nach ſeinen „Erfahrungen“ für
nothwendig, daß die Deutſche Volkspartei „mit der
chriſtlich-ſocialen Partei unter gar keinen
Umſtänden in die Gemeinbürgſchaft gehe,“

und es wäre „im Intereſſe der Sache(!) gelegen, wenn
ein Zuſammenarbeiten mit den anderen freiheit-
lichen Parteien,
ſpeciell mit der radical-
nationalen
Partei eheſtens zu Stande käme.“ —
Das Herz des „neugewählten“ Abgeordneten zieht
ihn alſo in eine Vereinigung mit den Liberalen und


[Abbildung] Die heutige Nummer iſt 12 Seiten ſtark. [Abbildung]
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[[1]/0001] Preis 8 h Redaction, Adminiſtration Expedition und Druckerei: VIII., Strozzigaſſe 41. Stadtexpedition I., Wollzeile 15. Zeitungsbureau Weis. Unfrankirte Briefe werden nicht an- genommen; Manuſcripte werden nicht zurückgeſtellt. Unverſchloſſene Reclamationen ſind portofrei. Inſerate werden im Ankündigungs- Bureau VIII., Strozzigaſſe 41, ſowie in allen Annoncenbureaux des In- und Auslandes angenommen. Abonnements werden ange- nommen außer in den Expeditionen bei J. Heindl, I., Stephansplatz 7. Erſcheint täglich, 6 Uhr Nach- mittags, mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage. Reichspoſt. Unabhängiges Tagblatt für das chriſtliche Volk Oeſterreich-Ungarns. 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Eng- lands Größe iſt ihre Größe und England ward groß. weil es eine ſolche große Königin beſaß. Victoria von England war als Frau Königin und als Königiu Frau — das iſt das Porträt ihres Charakters. Daß ſie das Ideal einer conſtitutionellen Königin war, iſt die Größe dieſer Frau, und daß ſie das Ideal einer Frau war, die Größe dieſer Königin. Man kann ſich England gar nicht mehr denken ohne ſie, wie wir uns Oeſterreich kaum denken können ohne Franz Joſef I. Und doch regiert er erſt 52 Jahre, ſie aber führt das Scepter Großbritanniens ein ganzes Jahrzehnt länger als er. Und erſt Englands Volk! Wie verehrte es dieſe Königin, die ihm als Frau faſt noch näher dem Herzen ſtand denn als Königin? Ein Vorbild weiblicher Tugend und aller Tngenden einer conſtitutioncllen Herrſcherin leuchtete ſie von der ſteilen Höhe des Thrones hernieder, und mit ihrem Volke denkend und fühlend, ſtand ſie doch mitten unter ihm, die größte Engländerin. Sie hat England groß gemacht. Als die jugendliche Königin Victoria im Jahre 1837 den Thron be- ſtieg, ſtreckte ſie ihr Scepter aus über ein Reich von 2,700.000 engliſchen Quadratmeilen mit 139,400.000 Einwohnern. Heute ängſtigen ſich um ihren Tod nahezu 400 Millionen ihrer Unter- thanen in dem britiſchen Reiche, das zu einem Um- fange von beinahe 11 Millionen Quadratmeilen ſich erweitert hat. Englands Landbeſitz hat ſich in den ſechs Jahrzehnten der Regierung Victorias alſo faſt vervierfacht, und die Zahl ihrer Unterthanen hat ſich verdreifacht. Daß die engliſche Politik des Länder- erwerbes vor dem Forum der öffentlichen Moral nicht in Allem einwandfrei daſteht, dafür die Königin verantwortlich zu machen, geht wohl nicht an; iſt doch die Verantwortlichkeit einer Königin in England ganz beſonders eingeengt durch eine ihr Wirken in den engſten Pflichtkreis bannende Conſtitution. Und das wird ihr ja Englands Volk noch in das Grab hinein nachrühmen, daß ſie, ob die politiſchen Richtungen der Cabinette und Parteien ſich noch ſo ſehr ablöſten, ob Whigs oder Tories in der Herrſchaft ſich folgten, ob conſervativ oder liberal Trumpf war, die Königin das Princip der Einigkeit der Nation und der freiheitlichen Ent- wickelung verkörperte. Es wäre unſtatthaft auch am Todesbette dieſer großen Herrſcherin, alles, was unter ihrer Regierung in England geſchah und von England unternommen wurde, hochzupreiſen oder auch nur zu eutſchuldigen. Die moderne Politik des nackten Egoismus — kein Staat hat ſie ſo zum Princip erhoben und in die Praxis umgeſetzt wie England. Der Ausrottungs-Krieg gegen Transvaal ſteht ja dafür heute vor Aller Augen als Zeuge mit blutüberſtrömten Händen da. Wie weit aber die Ver- antwortlichkeit der Königin für all dies vor dem Throne der ewig waltenden Gerechtigkeit reicht, wer wagte das zu entſcheiden? Ihrem milden Herzen, das ſo ganz ein Frauenherz war, entſprach eine ſolche Politik gewiß nicht; und wer weiß, ob nicht die traurigen Nachrichten von dem nicht endenwollenden blutigen Kriege in Transvaal ſich auf ihr Gemüth gelegt und ſie jener düſteren Schwermuth überliefert hatten, die ſie in der letzten Zeit befiel, ſo daß man ſie oft heimlich weinend fand, und ob nicht dieſer Seelen- ſchmerz die Urſache der Schwächung ihrer ſonſt ſo ausdauernden Körperkräfte war, welche ſie an die Schwelle des Todes gebracht. Das war eine Königin, die das Königthum würdig repräſentirte, die ihres Volkes Wohl vor allem im Auge hatte, da ſie es im Herzen trug, die als Herrſcherin war eine Frau, hilfreich, milde und gut und von jener vorbildlichen Reinheit, die ihr, ob ſie auch mehrfach Mutter war, eher den Titel der jung- fräulichen Königin verdient hätte als jener Eliſabeth. Unzählig ſind die Geſchichten, die im engliſchen Volk über ihre Gutherzigkeit und ihr echt menſchliches, ganz frauenhaftes Mitleid mit des Volkes Leid cur- ſiren. Wie ſie ſchon als kindliche Prinzeſſiu den Kna- ben, der das Unglück hatte in der Nähe von Wool- bridge-Cottage beim Spatzenſchießen dicht über ihr Haupt hinwegzuſchießen, ſtatt angedrohter Peitſchen- hiebe mit einem Kuſſe ihrer kindlichen Lippen für die ausgeſtandene Furcht entſchädigte, ſo zeigte ſich ihr gutes Herz auch als Königin. Als ihr der zwiſchen England und Madagaskar abzuſchließende Handels- vertrag zur Unterſchrift vorgelegt wurde, bemerkte die Königin, „daß darin keinerlei Maßregel für die Sicherheit des Lebens der Chriſten, ihrer Unter- thanen vorgeſehen ſei.“ „Ich fürchte“, erwiderte der Miniſter, „eine ſolche Clauſel wird nicht angenommen werden, da das Volk fanatiſch und blutdürſtig iſt.“ „Wir wollen einmal ſehen“, ent- gegnete Victoria und ſchrieb auf den Rand des Do- cumentes: „Königin Victoria verlangt als perſön- liche Gunſt für ſich ſelbſt, daß die Königin von Madagascar keine Verfolgung der Chriſten geſtattet.“ Als der Vertrag zurückkam, enthielt er die nachſtehen- den Worte: „In Uebereinſtimmung mit dem Wunſche der Königin Victoria verpflichtet ſich die Königin von Madagascar, keinerlei Chriſtenverfolgungen in ihrem Reiche zu geſtatten.“ Und ſo war es auch das liebevolle und den inneren Frieden ihres Volkes über Alles ſchätzende Herz dieſer edlen Frau und Königin, der die Katho- liken des proteſtantiſchen England die freie Aus- übung ihrer Religion, die ungehinderte Thätigkeit ihrer Orden nnd Congregationen, den unge- ahnt ſo raſch ſich entfaltenden Aufſchwung katholiſchen Kirche verdankten. Wie England in ſocial- und wirthſchaftlicher Beziehung unter ihrer Regierung vielfach vorbildlich geworden, wie ſich unter ihr Englands Handel ent- wickelt hat, das zu ſchildern iſt an dieſer Stelle nicht möglich. Königin Victoria war es, die ſpeciell allen humanitären Beſtrebungen das verſtändniß- und liebe- vollſte Intereſſe zuwandte. Deutſchland vor Allem wird am Sarge dieſer Königin vor allen andern Staaten außer England, zumeiſt trauern. Sie gab ja dem ritterlichen Kaiſer Friedrich III. ihre Tochter zur Gemahlin, und deren Kind iſt der jugendkräftige Kaiſer, der an der Spitze des jungen deutſchen Reiches ſteht, deſſen Glanz auch über die Meere tragend, wo einſt England allein herrſchte und eroberte. Trotz aller Differenzen, die zwiſchen England und Deutſchland die Politik ver- nrſacht, iſt die Freundſchaft beider Mächte wohl vorübergehend getrübt, nicht aber geſtört worden. Und Kaiſer Wilhelm II. war es, ihr Enkelkind, der, die Feierlichkeiten des preußiſchen Kronjubiläums unterbrechend, mit dem Hofzuge an das Sterbebett ſeiner königlichen Großmutter geeilt iſt. Eine ganze Welt harrt mit banger Trauer und trauerndem Bangen der Kunde, ob Königin Victoria der Agonie erlegen iſt oder noch durch ein Wunder des Himmels dem Leben erhalten wird. Wie immer die Botſchaft lauten mag, ſie wird das ruhmreiche Andenken dieſer Thron-Zierde des abgelaufenen Jahr- hunderts erneuern, und eine harmoniſche Stimme wird auf dem ganzen Erdkreiſe erſchallen: „Es ſtarb eine große Frau, eine große Königin“. Wackelige Leute. Ein früherer Miniſter fragte in der letzten Reichs- rathsſeſſion einen Abgeordneten: „A propos, wieviel Abgeordnete zählt die Deutſche Volkspartei?“ — „Ein- undvierzig, Excellenz!“ — „Ah ja, ganz recht, ſie hat ja einundvierzig Fractionen.“ Dieſer Sarkasmus ſcheint auch leider für das neue Parlament wahr zu werden, einig war die Deutſche Volkspartei ſtets nur in der Angſt vor den Radicalen. Das Elend der Deutſchen Volkspartei im letzten Wahlkampfe hätte Steine erweichen können. Die Radicalen ſchienen ihre ganze Aufgabe darin zu ſehen, ihr das Leben zu ver- ſauern. In Schleſien ſtellten ſie gegen die älteſten Parlamentarier der Deutſchen Volkspartei Gegen- candidaten auf, in Steiermark machten ſie ſelbſt Herrn Walz, der ſich um das Sitzenbleiben bei Loyalitäts-Kundgebungen ſo große Verdienſte erworben hatte, durch die Gegeu-Candidatur Berger Schwierigkeiten, und in Salzburg wurde ſogar der ewige Secundant deutſchradicaler Paukanten, Herr Dr. Sylveſter von einem hitzigen deutſchradicalen Gegencandidaten angegriffen. Die deutſche Volkspartei mußte ſich überall die ſchimpflichſte Behandlung ge- fallen laſſen und bot dabei das Bild hilfloſer Ver- laſſenheit. Kaum ſind die Wahleu vorüber, ſo wirft ſich nun die Deutſche Volkspartei vor den Deutſch- radicalen auf die Knie, demüthiglich bittend, ihre Freundſchaft huldreichſt anzunehmen. In eincr Reihe von Organen der Deutſchen Volkspartei hören wir jetzt die Melodie variiren, wie ſüß an der Bruſt des Herrn K. H. Wolf zu ruhen iſt, desſelben K. H. Wolf, der die „abgetakelte Profeſſorenpartei“ noch vor we- nigeu Wochen mit der Nilpferdpeitſche bearbeitete. Am ſchönſten hat die Anbiederung ein „neugewählter“ Abgeordneter der Deutſchen Volkspartei getroffen, der augenſcheinlich um ſeinen Antiſemitismus zu beweiſen, die „Neue Freie Preſſe“ als ſein Organ und Sprachrohr auserkoren hat. Dieſer Herr „antiſemitiſche“ Abgeordnete beſpricht alſo in dem Wiener Oberjudenblatte ſeine Erfahrungen aus der Wahlzeit: Seine Wählerſchaft habe einſtimmig das Verlangen nach der Arbeitsfähigkeit des Parla- mentes ausgeſprochen, und er werde deshalb zu jenen Abgeordneten zählen, welche Alles aufbieten, um das Parlament arbeitsfähig zu machen. Der Herr hält es weiters nach ſeinen „Erfahrungen“ für nothwendig, daß die Deutſche Volkspartei „mit der chriſtlich-ſocialen Partei unter gar keinen Umſtänden in die Gemeinbürgſchaft gehe,“ und es wäre „im Intereſſe der Sache(!) gelegen, wenn ein Zuſammenarbeiten mit den anderen freiheit- lichen Parteien, ſpeciell mit der radical- nationalen Partei eheſtens zu Stande käme.“ — Das Herz des „neugewählten“ Abgeordneten zieht ihn alſo in eine Vereinigung mit den Liberalen und [Abbildung] Die heutige Nummer iſt 12 Seiten ſtark. [Abbildung]

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 18, Wien, 22.01.1901, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost018_1901/1>, abgerufen am 29.03.2024.