Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite

erwärmenden Sonnenauge den Menschen an, von
dem er Abschied nahm. Gustav wollte aus dem
Wagen, um den bethaueten fliegenden Sommer
der zartgesponnen wie ein Menschenleben die Erde
überzog, zusammen zu wickeln und mitzunehmen.
Aber du Mensch! hängst so oft als stinkende Pest-
und Nebelwolke in die reine Natur herein!

Denn sie mochten kaum eine Stunde gefahren
seyn, nach der er schon jedes Dorf für Scheerau
hielt . . . . Ich will aber erst angeben, wo's war.
Bei Issig schrie der Kleine im Wald "o! jetzt wird
"der schwarze Arm hereinlangen und mich hinaus¬
"ziehen!" Als sich der Alte noch darüber wunder¬
te, woher der Kleine wüßte, daß jetzt eine Arm¬
säule käme, die wirklich aus den Bäumen heraus¬
wies: so fiengs auf einmal darhinter an zu schreien:
"ach meine Augen, meine Augen!" Den Kleinen
und die Mutter petrificirte der Schrecken; aber
der Rittmeister stürzte sich aus, oder durch den
Wagen, zerstieß die Gläser und prallte in den
Wald hinein -- und an ein kniendes feines Kind
hinan, aus dessen zerschnittenen Augen Thränen
und Wasser liefen. "Ach thu mir nichts, ich kann
"nimmer sehen!" sagt' es und griff mit den Händ¬

erwaͤrmenden Sonnenauge den Menſchen an, von
dem er Abſchied nahm. Guſtav wollte aus dem
Wagen, um den bethaueten fliegenden Sommer
der zartgeſponnen wie ein Menſchenleben die Erde
uͤberzog, zuſammen zu wickeln und mitzunehmen.
Aber du Menſch! haͤngſt ſo oft als ſtinkende Peſt-
und Nebelwolke in die reine Natur herein!

Denn ſie mochten kaum eine Stunde gefahren
ſeyn, nach der er ſchon jedes Dorf fuͤr Scheerau
hielt . . . . Ich will aber erſt angeben, wo's war.
Bei Iſſig ſchrie der Kleine im Wald „o! jetzt wird
„der ſchwarze Arm hereinlangen und mich hinaus¬
„ziehen!“ Als ſich der Alte noch daruͤber wunder¬
te, woher der Kleine wuͤßte, daß jetzt eine Arm¬
ſaͤule kaͤme, die wirklich aus den Baͤumen heraus¬
wies: ſo fiengs auf einmal darhinter an zu ſchreien:
„ach meine Augen, meine Augen!“ Den Kleinen
und die Mutter petrificirte der Schrecken; aber
der Rittmeiſter ſtuͤrzte ſich aus, oder durch den
Wagen, zerſtieß die Glaͤſer und prallte in den
Wald hinein — und an ein kniendes feines Kind
hinan, aus deſſen zerſchnittenen Augen Thraͤnen
und Waſſer liefen. „Ach thu mir nichts, ich kann
„nimmer ſehen!“ ſagt' es und griff mit den Haͤnd¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0144" n="108"/>
erwa&#x0364;rmenden Sonnenauge den Men&#x017F;chen an, von<lb/>
dem er Ab&#x017F;chied nahm. Gu&#x017F;tav wollte aus dem<lb/>
Wagen, um den bethaueten fliegenden Sommer<lb/>
der zartge&#x017F;ponnen wie ein Men&#x017F;chenleben die Erde<lb/>
u&#x0364;berzog, zu&#x017F;ammen zu wickeln und mitzunehmen.<lb/>
Aber du Men&#x017F;ch! ha&#x0364;ng&#x017F;t &#x017F;o oft als &#x017F;tinkende Pe&#x017F;t-<lb/>
und Nebelwolke in die reine Natur herein!</p><lb/>
          <p>Denn &#x017F;ie mochten kaum eine Stunde gefahren<lb/>
&#x017F;eyn, nach der er &#x017F;chon jedes Dorf fu&#x0364;r Scheerau<lb/>
hielt . . . . Ich will aber er&#x017F;t angeben, wo's war.<lb/>
Bei I&#x017F;&#x017F;ig &#x017F;chrie der Kleine im Wald &#x201E;o! jetzt wird<lb/>
&#x201E;der &#x017F;chwarze Arm hereinlangen und mich hinaus¬<lb/>
&#x201E;ziehen!&#x201C; Als &#x017F;ich der Alte noch daru&#x0364;ber wunder¬<lb/>
te, woher der Kleine wu&#x0364;ßte, daß jetzt eine Arm¬<lb/>
&#x017F;a&#x0364;ule ka&#x0364;me, die wirklich aus den Ba&#x0364;umen heraus¬<lb/>
wies: &#x017F;o fiengs auf einmal darhinter an zu &#x017F;chreien:<lb/>
&#x201E;ach meine Augen, meine Augen!&#x201C; Den Kleinen<lb/>
und die Mutter petrificirte der Schrecken; aber<lb/>
der Rittmei&#x017F;ter &#x017F;tu&#x0364;rzte &#x017F;ich aus, oder durch den<lb/>
Wagen, zer&#x017F;tieß die Gla&#x0364;&#x017F;er und prallte in den<lb/>
Wald hinein &#x2014; und an ein kniendes feines Kind<lb/>
hinan, aus de&#x017F;&#x017F;en zer&#x017F;chnittenen Augen Thra&#x0364;nen<lb/>
und Wa&#x017F;&#x017F;er liefen. &#x201E;Ach thu mir nichts, ich kann<lb/>
&#x201E;nimmer &#x017F;ehen!&#x201C; &#x017F;agt' es und griff mit den Ha&#x0364;nd¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[108/0144] erwaͤrmenden Sonnenauge den Menſchen an, von dem er Abſchied nahm. Guſtav wollte aus dem Wagen, um den bethaueten fliegenden Sommer der zartgeſponnen wie ein Menſchenleben die Erde uͤberzog, zuſammen zu wickeln und mitzunehmen. Aber du Menſch! haͤngſt ſo oft als ſtinkende Peſt- und Nebelwolke in die reine Natur herein! Denn ſie mochten kaum eine Stunde gefahren ſeyn, nach der er ſchon jedes Dorf fuͤr Scheerau hielt . . . . Ich will aber erſt angeben, wo's war. Bei Iſſig ſchrie der Kleine im Wald „o! jetzt wird „der ſchwarze Arm hereinlangen und mich hinaus¬ „ziehen!“ Als ſich der Alte noch daruͤber wunder¬ te, woher der Kleine wuͤßte, daß jetzt eine Arm¬ ſaͤule kaͤme, die wirklich aus den Baͤumen heraus¬ wies: ſo fiengs auf einmal darhinter an zu ſchreien: „ach meine Augen, meine Augen!“ Den Kleinen und die Mutter petrificirte der Schrecken; aber der Rittmeiſter ſtuͤrzte ſich aus, oder durch den Wagen, zerſtieß die Glaͤſer und prallte in den Wald hinein — und an ein kniendes feines Kind hinan, aus deſſen zerſchnittenen Augen Thraͤnen und Waſſer liefen. „Ach thu mir nichts, ich kann „nimmer ſehen!“ ſagt' es und griff mit den Haͤnd¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/144
Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/144>, abgerufen am 29.03.2024.