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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

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dem Zug der langen Straße nachsah und dachte,
wie sie fortliefe, über Berge schösse, immer immer¬
fort . . .? und endlich?. . . . ach alle Straßen füh¬
ren zu nichts und wo sie abreissen, steht wieder
einer der sich rückwärts herüber sehnt. -- Was
wollt' ich denn haben, wenn mein kleines Auge
sonst auf dem Rhein mit schwamm, damit er mich
hinnähme in ein gelobtes Land, in das alle Strö¬
me dacht' ich zögen, ach sonst wo ich nicht wußte,
daß er wenn er manches schwere Herz getragen, ne¬
ben mancher zerquetschten Gestalt vorbeigebrauset,
die er ach! von ihren Qualen erlösen mußte, daß
er dann wie der Mensch sich zersplittere und zer¬
trümmert einsikere in holländische Erde? --
Morgenland, Morgenland! auch nach deinen Auen
neigte sich sonst meine Seele wie Bäume nach
Osten -- "ach wie muß es da seyn, wo die Son¬
ne aufgeht!" dacht' ich; und als ich mit meiner
Mutter nach Pohlen reiste und endlich in das nach
Morgen liegende Land und unter seine Edelleute,
Juden und Sklaven trat. . . . . Weiter giebts aber
auf dieser optischen Kugel kein Morgen-Sonnen¬
land als das, das alle unsere Schritte weder ent¬
fernen noch erreichen. Ach ihr Freuden der

dem Zug der langen Straße nachſah und dachte,
wie ſie fortliefe, uͤber Berge ſchoͤſſe, immer immer¬
fort . . .? und endlich?. . . . ach alle Straßen fuͤh¬
ren zu nichts und wo ſie abreiſſen, ſteht wieder
einer der ſich ruͤckwaͤrts heruͤber ſehnt. — Was
wollt' ich denn haben, wenn mein kleines Auge
ſonſt auf dem Rhein mit ſchwamm, damit er mich
hinnaͤhme in ein gelobtes Land, in das alle Stroͤ¬
me dacht' ich zoͤgen, ach ſonſt wo ich nicht wußte,
daß er wenn er manches ſchwere Herz getragen, ne¬
ben mancher zerquetſchten Geſtalt vorbeigebrauſet,
die er ach! von ihren Qualen erloͤſen mußte, daß
er dann wie der Menſch ſich zerſplittere und zer¬
truͤmmert einſikere in hollaͤndiſche Erde? —
Morgenland, Morgenland! auch nach deinen Auen
neigte ſich ſonſt meine Seele wie Baͤume nach
Oſten — „ach wie muß es da ſeyn, wo die Son¬
ne aufgeht!“ dacht' ich; und als ich mit meiner
Mutter nach Pohlen reiſte und endlich in das nach
Morgen liegende Land und unter ſeine Edelleute,
Juden und Sklaven trat. . . . . Weiter giebts aber
auf dieſer optiſchen Kugel kein Morgen-Sonnen¬
land als das, das alle unſere Schritte weder ent¬
fernen noch erreichen. Ach ihr Freuden der

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[364/0400] dem Zug der langen Straße nachſah und dachte, wie ſie fortliefe, uͤber Berge ſchoͤſſe, immer immer¬ fort . . .? und endlich?. . . . ach alle Straßen fuͤh¬ ren zu nichts und wo ſie abreiſſen, ſteht wieder einer der ſich ruͤckwaͤrts heruͤber ſehnt. — Was wollt' ich denn haben, wenn mein kleines Auge ſonſt auf dem Rhein mit ſchwamm, damit er mich hinnaͤhme in ein gelobtes Land, in das alle Stroͤ¬ me dacht' ich zoͤgen, ach ſonſt wo ich nicht wußte, daß er wenn er manches ſchwere Herz getragen, ne¬ ben mancher zerquetſchten Geſtalt vorbeigebrauſet, die er ach! von ihren Qualen erloͤſen mußte, daß er dann wie der Menſch ſich zerſplittere und zer¬ truͤmmert einſikere in hollaͤndiſche Erde? — Morgenland, Morgenland! auch nach deinen Auen neigte ſich ſonſt meine Seele wie Baͤume nach Oſten — „ach wie muß es da ſeyn, wo die Son¬ ne aufgeht!“ dacht' ich; und als ich mit meiner Mutter nach Pohlen reiſte und endlich in das nach Morgen liegende Land und unter ſeine Edelleute, Juden und Sklaven trat. . . . . Weiter giebts aber auf dieſer optiſchen Kugel kein Morgen-Sonnen¬ land als das, das alle unſere Schritte weder ent¬ fernen noch erreichen. Ach ihr Freuden der

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/400>, abgerufen am 23.04.2024.