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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

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Mitternacht, wieder in unser Erd-Nest herein --
schon nach 12 Uhr Nachts fühl' ich neue Lebens¬
lust, die so zunimmt wie das herüber gegossene
Morgenlicht die Finsterniß verdünt und durchsichtig
macht. Gerade die feinsten und unsichtbarsten
Fühlfäden unserer Seele laufen wie Wurzeln, un¬
ter der groben Sinnenwelt fort und werden von
der entferntesten Erschütterung gestoßen. Z. B.
wenn der Himmel gegen Osten licht- und wolken¬
loß, gegen Westen mit Wolkenschläuchen verhan¬
gen ist: so kehr' ich mich scherzhafter Weise mehr
als zehnmal um -- steh' ich gegen Osten, so flie¬
gen alle psychologischen Wolken aus meinem Geiste
weg -- fahr' ich gegen Westen, so hängen sie sich
wieder um ihn herum -- und auf diese Art zwing'
ich durch schnelles Umdrehen die entgegengesetztesten
Empfindungen, vor mir ab- und zuzulaufen.

An logische Ordnung ist in diesem Luft-Sektor
gar nicht zu gedenken; einige chronologische soll
zu finden seyn. Nur wird mancher Gedanke mit
tausend Facetten von meiner Lichtscheere erdrückt
werden, wenn ich das Licht schneuze, oder in mei¬
ner Tasse ersaufen, wenn ich gestrigen Kaffee dar¬
aus trinken. Dem Publikum ist letzterer mehr an¬

Mitternacht, wieder in unſer Erd-Neſt herein —
ſchon nach 12 Uhr Nachts fuͤhl' ich neue Lebens¬
luſt, die ſo zunimmt wie das heruͤber gegoſſene
Morgenlicht die Finſterniß verduͤnt und durchſichtig
macht. Gerade die feinſten und unſichtbarſten
Fuͤhlfaͤden unſerer Seele laufen wie Wurzeln, un¬
ter der groben Sinnenwelt fort und werden von
der entfernteſten Erſchuͤtterung geſtoßen. Z. B.
wenn der Himmel gegen Oſten licht- und wolken¬
loß, gegen Weſten mit Wolkenſchlaͤuchen verhan¬
gen iſt: ſo kehr' ich mich ſcherzhafter Weiſe mehr
als zehnmal um — ſteh' ich gegen Oſten, ſo flie¬
gen alle pſychologiſchen Wolken aus meinem Geiſte
weg — fahr' ich gegen Weſten, ſo haͤngen ſie ſich
wieder um ihn herum — und auf dieſe Art zwing'
ich durch ſchnelles Umdrehen die entgegengeſetzteſten
Empfindungen, vor mir ab- und zuzulaufen.

An logiſche Ordnung iſt in dieſem Luft-Sektor
gar nicht zu gedenken; einige chronologiſche ſoll
zu finden ſeyn. Nur wird mancher Gedanke mit
tauſend Facetten von meiner Lichtſcheere erdruͤckt
werden, wenn ich das Licht ſchneuze, oder in mei¬
ner Taſſe erſaufen, wenn ich geſtrigen Kaffee dar¬
aus trinken. Dem Publikum iſt letzterer mehr an¬

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[379/0415] Mitternacht, wieder in unſer Erd-Neſt herein — ſchon nach 12 Uhr Nachts fuͤhl' ich neue Lebens¬ luſt, die ſo zunimmt wie das heruͤber gegoſſene Morgenlicht die Finſterniß verduͤnt und durchſichtig macht. Gerade die feinſten und unſichtbarſten Fuͤhlfaͤden unſerer Seele laufen wie Wurzeln, un¬ ter der groben Sinnenwelt fort und werden von der entfernteſten Erſchuͤtterung geſtoßen. Z. B. wenn der Himmel gegen Oſten licht- und wolken¬ loß, gegen Weſten mit Wolkenſchlaͤuchen verhan¬ gen iſt: ſo kehr' ich mich ſcherzhafter Weiſe mehr als zehnmal um — ſteh' ich gegen Oſten, ſo flie¬ gen alle pſychologiſchen Wolken aus meinem Geiſte weg — fahr' ich gegen Weſten, ſo haͤngen ſie ſich wieder um ihn herum — und auf dieſe Art zwing' ich durch ſchnelles Umdrehen die entgegengeſetzteſten Empfindungen, vor mir ab- und zuzulaufen. An logiſche Ordnung iſt in dieſem Luft-Sektor gar nicht zu gedenken; einige chronologiſche ſoll zu finden ſeyn. Nur wird mancher Gedanke mit tauſend Facetten von meiner Lichtſcheere erdruͤckt werden, wenn ich das Licht ſchneuze, oder in mei¬ ner Taſſe erſaufen, wenn ich geſtrigen Kaffee dar¬ aus trinken. Dem Publikum iſt letzterer mehr an¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/415>, abgerufen am 24.04.2024.