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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793.

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mal in meine Augen, in meine Arme gefasset -- --
wir könnten uns nie vergessen! Aber so . . . . wenn
du auch verlassen bist wie deine Schwester, wenn
du auch wie sie, unter einem Regen - Himmel und
durch eine leere Erde gehest und keinen Freund in
den Stunden des Kummers findest -- ach, du
hast alsdann nicht einmal ein verschwistertes Bild,
vor dem dein Herz ausblutet! -- O Bruder, wenn du
gut und unglücklich bist: so komm' zu deiner Schwe¬
ster und nimm ihr ganzes Herz -- es ist zerrissen,
aber nicht zertheilt und blutet nur! O es würde dich
so sehr lieben! Warum sehnest du dich nach keiner
Schwester? O du Ungesehener, wenn dich die Fremden
auch verlassen, auch täuschen, auch vergessen, warum
sehnest du dich nach keiner treuen Schwester? --
Wenn kann ich dirs sagen, wie oft ich dein stummes
Bild an mich gepresset, wie oft ich es stundenlang ange¬
blicket und mir Thränen in seine gemalten Augen ge¬
dacht habe bis ich selber darüber in strömende ausge¬
brochen bin? -- Verweile nicht so lange, bis deine
Schwester mit dem ermüdeten Herzen unter der Lei¬
chendecke ausruhet und mit allen ihren vergeblichen
Sehnen, mit ihren vergeblichen Thränen, mit ih¬
rer vergeblichen Liebe in kalte vergessene Erde zer¬

mal in meine Augen, in meine Arme gefaſſet — —
wir koͤnnten uns nie vergeſſen! Aber ſo . . . . wenn
du auch verlaſſen biſt wie deine Schweſter, wenn
du auch wie ſie, unter einem Regen - Himmel und
durch eine leere Erde geheſt und keinen Freund in
den Stunden des Kummers findeſt — ach, du
haſt alsdann nicht einmal ein verſchwiſtertes Bild,
vor dem dein Herz ausblutet! — O Bruder, wenn du
gut und ungluͤcklich biſt: ſo komm' zu deiner Schwe¬
ſter und nimm ihr ganzes Herz — es iſt zerriſſen,
aber nicht zertheilt und blutet nur! O es wuͤrde dich
ſo ſehr lieben! Warum ſehneſt du dich nach keiner
Schweſter? O du Ungeſehener, wenn dich die Fremden
auch verlaſſen, auch taͤuſchen, auch vergeſſen, warum
ſehneſt du dich nach keiner treuen Schweſter? —
Wenn kann ich dirs ſagen, wie oft ich dein ſtummes
Bild an mich gepreſſet, wie oft ich es ſtundenlang ange¬
blicket und mir Thraͤnen in ſeine gemalten Augen ge¬
dacht habe bis ich ſelber daruͤber in ſtroͤmende ausge¬
brochen bin? — Verweile nicht ſo lange, bis deine
Schweſter mit dem ermuͤdeten Herzen unter der Lei¬
chendecke ausruhet und mit allen ihren vergeblichen
Sehnen, mit ihren vergeblichen Thraͤnen, mit ih¬
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[294/0304] mal in meine Augen, in meine Arme gefaſſet — — wir koͤnnten uns nie vergeſſen! Aber ſo . . . . wenn du auch verlaſſen biſt wie deine Schweſter, wenn du auch wie ſie, unter einem Regen - Himmel und durch eine leere Erde geheſt und keinen Freund in den Stunden des Kummers findeſt — ach, du haſt alsdann nicht einmal ein verſchwiſtertes Bild, vor dem dein Herz ausblutet! — O Bruder, wenn du gut und ungluͤcklich biſt: ſo komm' zu deiner Schwe¬ ſter und nimm ihr ganzes Herz — es iſt zerriſſen, aber nicht zertheilt und blutet nur! O es wuͤrde dich ſo ſehr lieben! Warum ſehneſt du dich nach keiner Schweſter? O du Ungeſehener, wenn dich die Fremden auch verlaſſen, auch taͤuſchen, auch vergeſſen, warum ſehneſt du dich nach keiner treuen Schweſter? — Wenn kann ich dirs ſagen, wie oft ich dein ſtummes Bild an mich gepreſſet, wie oft ich es ſtundenlang ange¬ blicket und mir Thraͤnen in ſeine gemalten Augen ge¬ dacht habe bis ich ſelber daruͤber in ſtroͤmende ausge¬ brochen bin? — Verweile nicht ſo lange, bis deine Schweſter mit dem ermuͤdeten Herzen unter der Lei¬ chendecke ausruhet und mit allen ihren vergeblichen Sehnen, mit ihren vergeblichen Thraͤnen, mit ih¬ rer vergeblichen Liebe in kalte vergeſſene Erde zer¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/304>, abgerufen am 19.04.2024.