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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785.

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oder für jemand der dir sein Lebtag noch kein
Mundvoll Brod gegeben hat?

§. 62.
Der alte Junker will in kein Hornissen-
nest hinein greiffen.

Ueber morn auf diesen Freytag stellte der Jun-
ker den neuen Schulmeister der Gemeind
vor.

Der Pfarrer predigte an diesem Sontag
nicht. Er hielt das stundenlange Reden hal-
ten auf der Canzel und darneben, zur guten
Führung der Menschen gar nicht für so noth-
wendig, als man es gemeiniglich dafür ansieht.

Er hatte vielmehr grosse Einwendungen ge-
gen dasselbe, und behauptete, man sollte wenig-
stens keinen Menschen so stundenlange Reden
ans Volk halten lassen, der nicht als ein er-
probter Rathgeber und Wegweiser der Men-
schen erfunden worden wäre; und dergleichen
erprobte Rathgeber seyen rare Menschen, und
in den meisten Fällen just nicht die, welche wohl
lange Reden halten können.

Den andern Geistlichen, meynte er, sollte
man von Wort zu Wort vorschreiben, was sie
dem Volk offentlich vortragen dörften? Er
sagte, wenn man so sorgfältig erforschte und

oder fuͤr jemand der dir ſein Lebtag noch kein
Mundvoll Brod gegeben hat?

§. 62.
Der alte Junker will in kein Horniſſen-
neſt hinein greiffen.

Ueber morn auf dieſen Freytag ſtellte der Jun-
ker den neuen Schulmeiſter der Gemeind
vor.

Der Pfarrer predigte an dieſem Sontag
nicht. Er hielt das ſtundenlange Reden hal-
ten auf der Canzel und darneben, zur guten
Fuͤhrung der Menſchen gar nicht fuͤr ſo noth-
wendig, als man es gemeiniglich dafuͤr anſieht.

Er hatte vielmehr groſſe Einwendungen ge-
gen daſſelbe, und behauptete, man ſollte wenig-
ſtens keinen Menſchen ſo ſtundenlange Reden
ans Volk halten laſſen, der nicht als ein er-
probter Rathgeber und Wegweiſer der Men-
ſchen erfunden worden waͤre; und dergleichen
erprobte Rathgeber ſeyen rare Menſchen, und
in den meiſten Faͤllen juſt nicht die, welche wohl
lange Reden halten koͤnnen.

Den andern Geiſtlichen, meynte er, ſollte
man von Wort zu Wort vorſchreiben, was ſie
dem Volk offentlich vortragen doͤrften? Er
ſagte, wenn man ſo ſorgfaͤltig erforſchte und

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[274/0296] oder fuͤr jemand der dir ſein Lebtag noch kein Mundvoll Brod gegeben hat? §. 62. Der alte Junker will in kein Horniſſen- neſt hinein greiffen. Ueber morn auf dieſen Freytag ſtellte der Jun- ker den neuen Schulmeiſter der Gemeind vor. Der Pfarrer predigte an dieſem Sontag nicht. Er hielt das ſtundenlange Reden hal- ten auf der Canzel und darneben, zur guten Fuͤhrung der Menſchen gar nicht fuͤr ſo noth- wendig, als man es gemeiniglich dafuͤr anſieht. Er hatte vielmehr groſſe Einwendungen ge- gen daſſelbe, und behauptete, man ſollte wenig- ſtens keinen Menſchen ſo ſtundenlange Reden ans Volk halten laſſen, der nicht als ein er- probter Rathgeber und Wegweiſer der Men- ſchen erfunden worden waͤre; und dergleichen erprobte Rathgeber ſeyen rare Menſchen, und in den meiſten Faͤllen juſt nicht die, welche wohl lange Reden halten koͤnnen. Den andern Geiſtlichen, meynte er, ſollte man von Wort zu Wort vorſchreiben, was ſie dem Volk offentlich vortragen doͤrften? Er ſagte, wenn man ſo ſorgfaͤltig erforſchte und

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard03_1785/296>, abgerufen am 29.03.2024.