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von Preuschen, Hermione: Yoshiwara. Vom Freudenhaus des Lebens. Berlin, 1920.

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zum nächsten Morgen gedulden, so schwer ihr das auch fiel. Vor dem Einschlafen konnte sie zum ersten Male wieder ohne brennendes Weh an ihre Mutter denken. Es fiel ihr ein, wie sie allabendlich mit ihr und mit ihren toten Geschwistern gebetet hatte:

"Kranken Herzen sende Ruh,
müde Augen schließe zu.
Vater, laß die Augen dein,
über unsern Betten sein!"

Und dann kam der Vater und legte noch jedem der Kinder eine Rosenknospe aufs Bett. Und sie hielt sie in den Händen und roch sich daran in den Schlaf. Die ganze Nacht träumte sie von ihrer Kindheit und fragte sich beim Aufwachen verwundert, wo sie eigentlich sei. Endlich konnte sie in der Frühe Mrs. Higgins ihr Herz ausschütten. Doch diese schaute sie immer befremdeter an. "Kind, Kind, Sie wollen wirklich fort. Sie können das übers Herz bringen, nachdem Sie seit über zwei Jahren in die wunderbaren Tiefen, in die unergründlichen Schönheiten unseres Glaubens eindringen? In die Abgründe unserer Weisheit

zum nächsten Morgen gedulden, so schwer ihr das auch fiel. Vor dem Einschlafen konnte sie zum ersten Male wieder ohne brennendes Weh an ihre Mutter denken. Es fiel ihr ein, wie sie allabendlich mit ihr und mit ihren toten Geschwistern gebetet hatte:

„Kranken Herzen sende Ruh,
müde Augen schließe zu.
Vater, laß die Augen dein,
über unsern Betten sein!“

Und dann kam der Vater und legte noch jedem der Kinder eine Rosenknospe aufs Bett. Und sie hielt sie in den Händen und roch sich daran in den Schlaf. Die ganze Nacht träumte sie von ihrer Kindheit und fragte sich beim Aufwachen verwundert, wo sie eigentlich sei. Endlich konnte sie in der Frühe Mrs. Higgins ihr Herz ausschütten. Doch diese schaute sie immer befremdeter an. „Kind, Kind, Sie wollen wirklich fort. Sie können das übers Herz bringen, nachdem Sie seit über zwei Jahren in die wunderbaren Tiefen, in die unergründlichen Schönheiten unseres Glaubens eindringen? In die Abgründe unserer Weisheit

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[187/0186] zum nächsten Morgen gedulden, so schwer ihr das auch fiel. Vor dem Einschlafen konnte sie zum ersten Male wieder ohne brennendes Weh an ihre Mutter denken. Es fiel ihr ein, wie sie allabendlich mit ihr und mit ihren toten Geschwistern gebetet hatte: „Kranken Herzen sende Ruh, müde Augen schließe zu. Vater, laß die Augen dein, über unsern Betten sein!“ Und dann kam der Vater und legte noch jedem der Kinder eine Rosenknospe aufs Bett. Und sie hielt sie in den Händen und roch sich daran in den Schlaf. Die ganze Nacht träumte sie von ihrer Kindheit und fragte sich beim Aufwachen verwundert, wo sie eigentlich sei. Endlich konnte sie in der Frühe Mrs. Higgins ihr Herz ausschütten. Doch diese schaute sie immer befremdeter an. „Kind, Kind, Sie wollen wirklich fort. Sie können das übers Herz bringen, nachdem Sie seit über zwei Jahren in die wunderbaren Tiefen, in die unergründlichen Schönheiten unseres Glaubens eindringen? In die Abgründe unserer Weisheit

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Zitationshilfe: von Preuschen, Hermione: Yoshiwara. Vom Freudenhaus des Lebens. Berlin, 1920, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/preuschen_yoshiwara_1920/186>, abgerufen am 18.04.2024.