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Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831.

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Ich las gestern, "daß starke Leidenschaften durch
die Entfernung wachsen." Die meinige für Dich muß
also eine starke seyn, was zärtliche Freundschaft
ohnedem immer am sichersten ist -- denn ich habe
Dich lieber als je. Uebrigens ist die Sache sehr er-
klärlich. Liebt man Jemanden wahrhaft, so hat man
in der Abwesenheit nur immer seine guten und lie-
benswürdigen Eigenschaften vor Augen, das Unan-
genehme kleiner Fehler, die jeder Mensch hat, und
die doch zuweilen in der Gegenwart verletzen, fällt
ganz aus dem Gedächtniß, und die Liebe vermehrt
sich also ganz natürlich in der Entfernung. Und
Du -- wie denkst Du darüber? Um wie viel mehr
Fehler hast Du bei mir mit dem Mantel der christ-
lichen Liebe zu bedecken! Ich reise indeß morgen er-
preß nach London, um unserm Gesandten diesen Brief
für Dich selbst zu übergeben, da die letzten so lange
unterwegs geblieben sind. Wahrscheinlich sind Neu-
gierige darüber gekommen, denn die Infamie des
Brieföffnens werden wir wohl sobald nicht los wer-
den. In zwei Tagen bin ich wieder hier, und so
glücklich, 3 -- 4 Bälle in dieser Zeit zu versäumen.
Vor der Abreise machte ich heut früh noch eine lange
einsame Promenade, und diesmal doch nicht ganz
allein, sondern mit einer jener vielen artigen jungen
Damen, die ich hier kennen gelernt. In dieser Hin-
sicht gewährt man den Unverheiratheten in England,
wenn sie einmal in die Welt lancirt sind, ungemein


Ich las geſtern, „daß ſtarke Leidenſchaften durch
die Entfernung wachſen.“ Die meinige für Dich muß
alſo eine ſtarke ſeyn, was zärtliche Freundſchaft
ohnedem immer am ſicherſten iſt — denn ich habe
Dich lieber als je. Uebrigens iſt die Sache ſehr er-
klärlich. Liebt man Jemanden wahrhaft, ſo hat man
in der Abweſenheit nur immer ſeine guten und lie-
benswürdigen Eigenſchaften vor Augen, das Unan-
genehme kleiner Fehler, die jeder Menſch hat, und
die doch zuweilen in der Gegenwart verletzen, fällt
ganz aus dem Gedächtniß, und die Liebe vermehrt
ſich alſo ganz natürlich in der Entfernung. Und
Du — wie denkſt Du darüber? Um wie viel mehr
Fehler haſt Du bei mir mit dem Mantel der chriſt-
lichen Liebe zu bedecken! Ich reiſe indeß morgen er-
preß nach London, um unſerm Geſandten dieſen Brief
für Dich ſelbſt zu übergeben, da die letzten ſo lange
unterwegs geblieben ſind. Wahrſcheinlich ſind Neu-
gierige darüber gekommen, denn die Infamie des
Brieföffnens werden wir wohl ſobald nicht los wer-
den. In zwei Tagen bin ich wieder hier, und ſo
glücklich, 3 — 4 Bälle in dieſer Zeit zu verſäumen.
Vor der Abreiſe machte ich heut früh noch eine lange
einſame Promenade, und diesmal doch nicht ganz
allein, ſondern mit einer jener vielen artigen jungen
Damen, die ich hier kennen gelernt. In dieſer Hin-
ſicht gewährt man den Unverheiratheten in England,
wenn ſie einmal in die Welt lancirt ſind, ungemein

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[375/0421] Den 16ten. Ich las geſtern, „daß ſtarke Leidenſchaften durch die Entfernung wachſen.“ Die meinige für Dich muß alſo eine ſtarke ſeyn, was zärtliche Freundſchaft ohnedem immer am ſicherſten iſt — denn ich habe Dich lieber als je. Uebrigens iſt die Sache ſehr er- klärlich. Liebt man Jemanden wahrhaft, ſo hat man in der Abweſenheit nur immer ſeine guten und lie- benswürdigen Eigenſchaften vor Augen, das Unan- genehme kleiner Fehler, die jeder Menſch hat, und die doch zuweilen in der Gegenwart verletzen, fällt ganz aus dem Gedächtniß, und die Liebe vermehrt ſich alſo ganz natürlich in der Entfernung. Und Du — wie denkſt Du darüber? Um wie viel mehr Fehler haſt Du bei mir mit dem Mantel der chriſt- lichen Liebe zu bedecken! Ich reiſe indeß morgen er- preß nach London, um unſerm Geſandten dieſen Brief für Dich ſelbſt zu übergeben, da die letzten ſo lange unterwegs geblieben ſind. Wahrſcheinlich ſind Neu- gierige darüber gekommen, denn die Infamie des Brieföffnens werden wir wohl ſobald nicht los wer- den. In zwei Tagen bin ich wieder hier, und ſo glücklich, 3 — 4 Bälle in dieſer Zeit zu verſäumen. Vor der Abreiſe machte ich heut früh noch eine lange einſame Promenade, und diesmal doch nicht ganz allein, ſondern mit einer jener vielen artigen jungen Damen, die ich hier kennen gelernt. In dieſer Hin- ſicht gewährt man den Unverheiratheten in England, wenn ſie einmal in die Welt lancirt ſind, ungemein

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Zitationshilfe: Pückler-Muskau, Hermann von: Briefe eines Verstorbenen. Bd. 3. Stuttgart, 1831, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pueckler_briefe03_1831/421>, abgerufen am 24.04.2024.