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Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176.

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L. Purtscheller
Ammianus Marcellinus, Polybius, Tacitus über die Alpen
besassen, wie das Mittelalter, ja selbst die letztverflossenen Jahr-
hunderte über die Gebirge dachten, bedarf hier keiner näheren
Erörterung. Gewiss hätten auch unsere Vorfahren den Alpen
den Tribut ihrer Bewunderung gezollt, wäre es ihnen vergönnt
gewesen, mit derselben Bequemlichkeit und Sicherheit, wie dies
heute geschehen kann, in die weltentrückten Hochthäler ein-
zudringen.

Dessenungeachtet hat die ältere Epoche eine stattliche Zahl
von Männern aufzuweisen, die mit prophetischem Geiste den
Ruhm des Alpengebirges erschauten. Zu diesen Männern gehören
die zwei grossen Vertreter der Renaissance, Dante und Petrarca,
der universelle Geist Leonardo's da Vinci und vor Allem die
berühmten Schweizer Naturforscher, Konrad Gessner und
Johann Jakob Scheuchzer. Gessner und sein Zeitgenosse
Josias Simler, beide dem XVI. Jahrhunderte angehörig, empfanden
und schrieben bereits im Sinne unserer heutigen Zeit, und
Scheuchzer unternahm es 1723, die Früchte seiner Alpenreisen in
einem vierbändigen Werke "Itinera alpina" niederzulegen. Wie
Gessner, besass auch Scheuchzer ein lebhaftes Verständniss für
die Schönheit der Hochgebirgsnatur, er bekennt unumwunden,
"an dergleichen wilden und einsamen Orten grössere Belustigung
und mehr Eifer zur Aufmerkung zu spüren, als bei den Füssen
des grossen Aristoteles, Epikur und Cartesius."

Noch grössere Verdienste um die Alpenwelt als Scheuchzer
erwarb sich ihr erhabenster Sänger, Albrecht von Haller. Wie
die Donnerwürfe des Föhns die Hochthäler durchstürmen und
ein gewaltiges Echo in den Bergen wachrufen, so fand auch
Haller's Dichtung einen mächtigen Widerhall in den Herzen seiner
Zeitgenossen. Wohl Niemand hat die Bergeswelt in reinerem
dichterischen Aufschwunge, Niemand ihren Einfluss auf die Sitte
und Denkweise ihrer Bewohner mit grösserer idealer Begeisterung
geschildert, als der zwanzigjährige Doctor medicinae, dem die in
Luxus und Genuss aufwachsenden Städter als ein "verachtetes
Volk" erschienen. Diese Dichtung, in der die Kraft, die Klarheit
und Bilderfülle des Haller'schen Talentes in bewunderungswürdiger
Weise hervortreten, war der lebendige Ausdruck jenes Natur-
gefühles, das lange Zeit in der Kunstform des Idylls, des Schäfer-
romans und des Lehrgedichtes die Gemüther beherrschte.

War schon Haller, eine kräftig angelegte, sittlich gesunde
Individualität, bei seiner Verehrung für die Natur im Gegensatze

L. Purtscheller
Ammianus Marcellinus, Polybius, Tacitus über die Alpen
besassen, wie das Mittelalter, ja selbst die letztverflossenen Jahr-
hunderte über die Gebirge dachten, bedarf hier keiner näheren
Erörterung. Gewiss hätten auch unsere Vorfahren den Alpen
den Tribut ihrer Bewunderung gezollt, wäre es ihnen vergönnt
gewesen, mit derselben Bequemlichkeit und Sicherheit, wie dies
heute geschehen kann, in die weltentrückten Hochthäler ein-
zudringen.

Dessenungeachtet hat die ältere Epoche eine stattliche Zahl
von Männern aufzuweisen, die mit prophetischem Geiste den
Ruhm des Alpengebirges erschauten. Zu diesen Männern gehören
die zwei grossen Vertreter der Renaissance, Dante und Petrarca,
der universelle Geist Leonardo’s da Vinci und vor Allem die
berühmten Schweizer Naturforscher, Konrad Gessner und
Johann Jakob Scheuchzer. Gessner und sein Zeitgenosse
Josias Simler, beide dem XVI. Jahrhunderte angehörig, empfanden
und schrieben bereits im Sinne unserer heutigen Zeit, und
Scheuchzer unternahm es 1723, die Früchte seiner Alpenreisen in
einem vierbändigen Werke „Itinera alpina“ niederzulegen. Wie
Gessner, besass auch Scheuchzer ein lebhaftes Verständniss für
die Schönheit der Hochgebirgsnatur, er bekennt unumwunden,
„an dergleichen wilden und einsamen Orten grössere Belustigung
und mehr Eifer zur Aufmerkung zu spüren, als bei den Füssen
des grossen Aristoteles, Epikur und Cartesius.“

Noch grössere Verdienste um die Alpenwelt als Scheuchzer
erwarb sich ihr erhabenster Sänger, Albrecht von Haller. Wie
die Donnerwürfe des Föhns die Hochthäler durchstürmen und
ein gewaltiges Echo in den Bergen wachrufen, so fand auch
Haller’s Dichtung einen mächtigen Widerhall in den Herzen seiner
Zeitgenossen. Wohl Niemand hat die Bergeswelt in reinerem
dichterischen Aufschwunge, Niemand ihren Einfluss auf die Sitte
und Denkweise ihrer Bewohner mit grösserer idealer Begeisterung
geschildert, als der zwanzigjährige Doctor medicinae, dem die in
Luxus und Genuss aufwachsenden Städter als ein „verachtetes
Volk“ erschienen. Diese Dichtung, in der die Kraft, die Klarheit
und Bilderfülle des Haller’schen Talentes in bewunderungswürdiger
Weise hervortreten, war der lebendige Ausdruck jenes Natur-
gefühles, das lange Zeit in der Kunstform des Idylls, des Schäfer-
romans und des Lehrgedichtes die Gemüther beherrschte.

War schon Haller, eine kräftig angelegte, sittlich gesunde
Individualität, bei seiner Verehrung für die Natur im Gegensatze

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[96/0002] L. Purtscheller Ammianus Marcellinus, Polybius, Tacitus über die Alpen besassen, wie das Mittelalter, ja selbst die letztverflossenen Jahr- hunderte über die Gebirge dachten, bedarf hier keiner näheren Erörterung. Gewiss hätten auch unsere Vorfahren den Alpen den Tribut ihrer Bewunderung gezollt, wäre es ihnen vergönnt gewesen, mit derselben Bequemlichkeit und Sicherheit, wie dies heute geschehen kann, in die weltentrückten Hochthäler ein- zudringen. Dessenungeachtet hat die ältere Epoche eine stattliche Zahl von Männern aufzuweisen, die mit prophetischem Geiste den Ruhm des Alpengebirges erschauten. Zu diesen Männern gehören die zwei grossen Vertreter der Renaissance, Dante und Petrarca, der universelle Geist Leonardo’s da Vinci und vor Allem die berühmten Schweizer Naturforscher, Konrad Gessner und Johann Jakob Scheuchzer. Gessner und sein Zeitgenosse Josias Simler, beide dem XVI. Jahrhunderte angehörig, empfanden und schrieben bereits im Sinne unserer heutigen Zeit, und Scheuchzer unternahm es 1723, die Früchte seiner Alpenreisen in einem vierbändigen Werke „Itinera alpina“ niederzulegen. Wie Gessner, besass auch Scheuchzer ein lebhaftes Verständniss für die Schönheit der Hochgebirgsnatur, er bekennt unumwunden, „an dergleichen wilden und einsamen Orten grössere Belustigung und mehr Eifer zur Aufmerkung zu spüren, als bei den Füssen des grossen Aristoteles, Epikur und Cartesius.“ Noch grössere Verdienste um die Alpenwelt als Scheuchzer erwarb sich ihr erhabenster Sänger, Albrecht von Haller. Wie die Donnerwürfe des Föhns die Hochthäler durchstürmen und ein gewaltiges Echo in den Bergen wachrufen, so fand auch Haller’s Dichtung einen mächtigen Widerhall in den Herzen seiner Zeitgenossen. Wohl Niemand hat die Bergeswelt in reinerem dichterischen Aufschwunge, Niemand ihren Einfluss auf die Sitte und Denkweise ihrer Bewohner mit grösserer idealer Begeisterung geschildert, als der zwanzigjährige Doctor medicinae, dem die in Luxus und Genuss aufwachsenden Städter als ein „verachtetes Volk“ erschienen. Diese Dichtung, in der die Kraft, die Klarheit und Bilderfülle des Haller’schen Talentes in bewunderungswürdiger Weise hervortreten, war der lebendige Ausdruck jenes Natur- gefühles, das lange Zeit in der Kunstform des Idylls, des Schäfer- romans und des Lehrgedichtes die Gemüther beherrschte. War schon Haller, eine kräftig angelegte, sittlich gesunde Individualität, bei seiner Verehrung für die Natur im Gegensatze

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Zitationshilfe: Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176, hier S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/purtscheller_alpinismus_1894/2>, abgerufen am 29.03.2024.