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Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176.

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Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.
Aufgabe gestaltet sich das Rekognoszieren in jenen Hochgebirgen,
deren Gipfel nahe oder über 5000 m emporragen, wie im Kaukasus
und im Himalaya. Ist es schon bei manchem unserer Hochgipfel
unmöglich, die Anstiegsroute übersehen zu können, so ist dies
bei höheren Bergen noch viel schwieriger. Man sieht zwar die
unteren Theile des Berges, nicht aber die oberen übereinander-
liegenden Stockwerke. Nie wird man auf einem der grossen
Hochgipfel des Kaukasus und des Himalaya eine vor Steinfällen
und Lawinen ganz sichere Route auffinden können, jeder Anstieg
setzt sich aus einer Reihe bedenklicher Passagen und schwieriger
Klettereien zusammen, jeder hat seine Voraussetzungen und Be-
dingungen, von denen der glückliche Enderfolg abhängt.

Bei Ersteigung eines Hochgipfels hat man insbesondere die
objektiven Gefahren, in erster Linie also Lawinen und Steinfälle
zu berücksichtigen. Dazu kommen noch die gewaltigen Dimensionen
mancher Hochgipfel, die ein auch nur beiläufiges Abschätzen der
Entfernungen sehr schwierig gestalten. Doch lässt sich ein sicheres
Urtheil über einen Berg durch Uebung ebenso erreichen, wie
technische Fertigkeit und Gewandtheit in der Ueberwindung von
Hindernissen, aber ersteres erfordert viel mehr Zeit. Unterliegt
unser Urtheil einer Sinnestäuschung, sind unsere Voraussetzungen
unrichtig, die Schlüsse falsch gezogen, so kann die Besteigung
sehr viele Mühe kosten, Gefahr bringen, oder auch ganz misslingen.
Manches Unglück in den Bergen ereignete sich deshalb, weil schon
der Plan, der strategische Entwurf, die Anlage des Unternehmens
verfehlt war.

Unsere Bergkenntniss und Beurtheilungsgabe werden aus-
gebildet, wenn wir versuchen, die uns im Gebirge entgegentretenden
Objekte, wie Felswände, Firnhänge, Rinnen, Kamine, Grate, mit
dem Auge auf ihre Ersteiglichkeit zu prüfen. Allerdings dürfen solche
Routen nicht nur einen idealen Werth haben, sondern müssen
auf ihre praktische Ausführbarkeit kontrolliert werden, was am Besten
durch Berathung mit erfahrenen Genossen oder Führern geschieht.
Führerlose Touristen haben sich vor jeder Selbstüberhebung und
vor allzu grossem Vertrauen auf ihre Kräfte, Gewandtheit und
Widerstandsfähigkeit zu hüten, denn Fehler dieser Art rächen
sich meist sehr bitter. Routen oder Kombinationen von wirklichem
oder idealem Werthe sind bald entworfen, aber die Ausführung er-
fordert viel Arbeit, Zeit, Erfahrung und Klugheit. Ein mittelmässiger
Praktiker - und sei derselbe auch ein analphabeter Ziegenhirt -
gilt im Gebirge zehnmal mehr, als ein Theoretiker, auch wenn

Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.
Aufgabe gestaltet sich das Rekognoszieren in jenen Hochgebirgen,
deren Gipfel nahe oder über 5000 m emporragen, wie im Kaukasus
und im Himalaya. Ist es schon bei manchem unserer Hochgipfel
unmöglich, die Anstiegsroute übersehen zu können, so ist dies
bei höheren Bergen noch viel schwieriger. Man sieht zwar die
unteren Theile des Berges, nicht aber die oberen übereinander-
liegenden Stockwerke. Nie wird man auf einem der grossen
Hochgipfel des Kaukasus und des Himalaya eine vor Steinfällen
und Lawinen ganz sichere Route auffinden können, jeder Anstieg
setzt sich aus einer Reihe bedenklicher Passagen und schwieriger
Klettereien zusammen, jeder hat seine Voraussetzungen und Be-
dingungen, von denen der glückliche Enderfolg abhängt.

Bei Ersteigung eines Hochgipfels hat man insbesondere die
objektiven Gefahren, in erster Linie also Lawinen und Steinfälle
zu berücksichtigen. Dazu kommen noch die gewaltigen Dimensionen
mancher Hochgipfel, die ein auch nur beiläufiges Abschätzen der
Entfernungen sehr schwierig gestalten. Doch lässt sich ein sicheres
Urtheil über einen Berg durch Uebung ebenso erreichen, wie
technische Fertigkeit und Gewandtheit in der Ueberwindung von
Hindernissen, aber ersteres erfordert viel mehr Zeit. Unterliegt
unser Urtheil einer Sinnestäuschung, sind unsere Voraussetzungen
unrichtig, die Schlüsse falsch gezogen, so kann die Besteigung
sehr viele Mühe kosten, Gefahr bringen, oder auch ganz misslingen.
Manches Unglück in den Bergen ereignete sich deshalb, weil schon
der Plan, der strategische Entwurf, die Anlage des Unternehmens
verfehlt war.

Unsere Bergkenntniss und Beurtheilungsgabe werden aus-
gebildet, wenn wir versuchen, die uns im Gebirge entgegentretenden
Objekte, wie Felswände, Firnhänge, Rinnen, Kamine, Grate, mit
dem Auge auf ihre Ersteiglichkeit zu prüfen. Allerdings dürfen solche
Routen nicht nur einen idealen Werth haben, sondern müssen
auf ihre praktische Ausführbarkeit kontrolliert werden, was am Besten
durch Berathung mit erfahrenen Genossen oder Führern geschieht.
Führerlose Touristen haben sich vor jeder Selbstüberhebung und
vor allzu grossem Vertrauen auf ihre Kräfte, Gewandtheit und
Widerstandsfähigkeit zu hüten, denn Fehler dieser Art rächen
sich meist sehr bitter. Routen oder Kombinationen von wirklichem
oder idealem Werthe sind bald entworfen, aber die Ausführung er-
fordert viel Arbeit, Zeit, Erfahrung und Klugheit. Ein mittelmässiger
Praktiker – und sei derselbe auch ein analphabeter Ziegenhirt -
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[123/0029] Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus. Aufgabe gestaltet sich das Rekognoszieren in jenen Hochgebirgen, deren Gipfel nahe oder über 5000 m emporragen, wie im Kaukasus und im Himalaya. Ist es schon bei manchem unserer Hochgipfel unmöglich, die Anstiegsroute übersehen zu können, so ist dies bei höheren Bergen noch viel schwieriger. Man sieht zwar die unteren Theile des Berges, nicht aber die oberen übereinander- liegenden Stockwerke. Nie wird man auf einem der grossen Hochgipfel des Kaukasus und des Himalaya eine vor Steinfällen und Lawinen ganz sichere Route auffinden können, jeder Anstieg setzt sich aus einer Reihe bedenklicher Passagen und schwieriger Klettereien zusammen, jeder hat seine Voraussetzungen und Be- dingungen, von denen der glückliche Enderfolg abhängt. Bei Ersteigung eines Hochgipfels hat man insbesondere die objektiven Gefahren, in erster Linie also Lawinen und Steinfälle zu berücksichtigen. Dazu kommen noch die gewaltigen Dimensionen mancher Hochgipfel, die ein auch nur beiläufiges Abschätzen der Entfernungen sehr schwierig gestalten. Doch lässt sich ein sicheres Urtheil über einen Berg durch Uebung ebenso erreichen, wie technische Fertigkeit und Gewandtheit in der Ueberwindung von Hindernissen, aber ersteres erfordert viel mehr Zeit. Unterliegt unser Urtheil einer Sinnestäuschung, sind unsere Voraussetzungen unrichtig, die Schlüsse falsch gezogen, so kann die Besteigung sehr viele Mühe kosten, Gefahr bringen, oder auch ganz misslingen. Manches Unglück in den Bergen ereignete sich deshalb, weil schon der Plan, der strategische Entwurf, die Anlage des Unternehmens verfehlt war. Unsere Bergkenntniss und Beurtheilungsgabe werden aus- gebildet, wenn wir versuchen, die uns im Gebirge entgegentretenden Objekte, wie Felswände, Firnhänge, Rinnen, Kamine, Grate, mit dem Auge auf ihre Ersteiglichkeit zu prüfen. Allerdings dürfen solche Routen nicht nur einen idealen Werth haben, sondern müssen auf ihre praktische Ausführbarkeit kontrolliert werden, was am Besten durch Berathung mit erfahrenen Genossen oder Führern geschieht. Führerlose Touristen haben sich vor jeder Selbstüberhebung und vor allzu grossem Vertrauen auf ihre Kräfte, Gewandtheit und Widerstandsfähigkeit zu hüten, denn Fehler dieser Art rächen sich meist sehr bitter. Routen oder Kombinationen von wirklichem oder idealem Werthe sind bald entworfen, aber die Ausführung er- fordert viel Arbeit, Zeit, Erfahrung und Klugheit. Ein mittelmässiger Praktiker – und sei derselbe auch ein analphabeter Ziegenhirt - gilt im Gebirge zehnmal mehr, als ein Theoretiker, auch wenn

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Zitationshilfe: Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176, hier S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/purtscheller_alpinismus_1894/29>, abgerufen am 16.04.2024.