Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176.

Bild:
<< vorherige Seite

Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.
rinnendem Schmelzwasser und starken Nachtfrösten, ja selbst im
Sommer nach schweren Regengüssen und plötzlicher Ausheiterung,
zeigen sich manchmal auch minder hohe Felsberge vereist. Beraste
Erhebungen sind im Winter oft so fest gefroren, wie ein Eishang
und in diesem Zustande noch gefährlicher, als dieser. Da auf
vereisten Felsen und auf gefrorenem Rasen der Pickel gleich
wirkungslos ist, so bleibt kein anderer Ausweg, als dieselben zu
meiden oder mit Steigeisen anzugreifen. Wenn letztere irgendwo
nothwendig sind, so sind sie es in diesem Falle. Mit Hülfe des
mit Steigeisen bewehrten Fusses können wir auch da noch sicher
auftreten, wo wir sonst zur Umkehr gezwungen wären. Auch
Jäger, Holzhauer, Heuzieher steigen im Winter nicht auf die
Berge, ohne die "Eisen" mitzunehmen. Steile Rasenberge oder
von Rasenhängen durchbrochene Felswände, wie wir solche im
Kalk- und Schiefergebirge antreffen, können bei Ausserachtlassung
der Vorsicht auch im Sommer Gefahr bringen. Die begrasten
Felsberge sind das Terrain der Alpenblumen-Pflücker, die all-
jährlich die Zahl vulgärer Bergunfälle bedeutend vermehren. Die
Erklimmung eines steilen Rasenberges ist nicht Sache eines
Spaziergängers, und schneebedeckter Rasen gewährt selbst den
Steigeisen nicht immer Halt. Unbedingt erfordern auch die Gras-
berge eine entsprechende Ausrüstung, das Seil ist zur gegenseitigen
Versicherung nöthig, und statt des Schattenspenders wird der Eis-
pickel gute Dienste leisten.



V.

Aus der Felsregion steigen wir empor in das Bereich des
ewigen Eises und Firns. Wer zum ersten Male einen Gletscher
betritt, wird erstaunt sein über die Grösse und Pracht dieser Eis-
gebilde und über das Eigenthümliche und Fremdartige ihres
Baues. Zur entzückten Bewunderung, welche uns die blaugrünen
Eispaläste, die abenteuerlichen Nadeln, Thürme und Säulen und
das Gefunkel der Schneekrystalle einflössen, gesellt sich die ehr-
furchtsvolle Scheu, die wir vor der dunklen, weitgähnenden Kluft,
dem Donner der Lawine, vor den einstürzenden Eisthürmen, den
bedrohlich überhängenden Schneebalkonen empfinden. Die Be-
gehung eines Gletschers, dessen Klüfte offen zu Tage liegen, ist
völlig gefahrlos, nur hat man sich, solange die Oberfläche hart
ist, vor dem Ausgleiten zu hüten. Auch sonst gilt es, die Augen

Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus.
rinnendem Schmelzwasser und starken Nachtfrösten, ja selbst im
Sommer nach schweren Regengüssen und plötzlicher Ausheiterung,
zeigen sich manchmal auch minder hohe Felsberge vereist. Beraste
Erhebungen sind im Winter oft so fest gefroren, wie ein Eishang
und in diesem Zustande noch gefährlicher, als dieser. Da auf
vereisten Felsen und auf gefrorenem Rasen der Pickel gleich
wirkungslos ist, so bleibt kein anderer Ausweg, als dieselben zu
meiden oder mit Steigeisen anzugreifen. Wenn letztere irgendwo
nothwendig sind, so sind sie es in diesem Falle. Mit Hülfe des
mit Steigeisen bewehrten Fusses können wir auch da noch sicher
auftreten, wo wir sonst zur Umkehr gezwungen wären. Auch
Jäger, Holzhauer, Heuzieher steigen im Winter nicht auf die
Berge, ohne die „Eisen“ mitzunehmen. Steile Rasenberge oder
von Rasenhängen durchbrochene Felswände, wie wir solche im
Kalk- und Schiefergebirge antreffen, können bei Ausserachtlassung
der Vorsicht auch im Sommer Gefahr bringen. Die begrasten
Felsberge sind das Terrain der Alpenblumen-Pflücker, die all-
jährlich die Zahl vulgärer Bergunfälle bedeutend vermehren. Die
Erklimmung eines steilen Rasenberges ist nicht Sache eines
Spaziergängers, und schneebedeckter Rasen gewährt selbst den
Steigeisen nicht immer Halt. Unbedingt erfordern auch die Gras-
berge eine entsprechende Ausrüstung, das Seil ist zur gegenseitigen
Versicherung nöthig, und statt des Schattenspenders wird der Eis-
pickel gute Dienste leisten.



V.

Aus der Felsregion steigen wir empor in das Bereich des
ewigen Eises und Firns. Wer zum ersten Male einen Gletscher
betritt, wird erstaunt sein über die Grösse und Pracht dieser Eis-
gebilde und über das Eigenthümliche und Fremdartige ihres
Baues. Zur entzückten Bewunderung, welche uns die blaugrünen
Eispaläste, die abenteuerlichen Nadeln, Thürme und Säulen und
das Gefunkel der Schneekrystalle einflössen, gesellt sich die ehr-
furchtsvolle Scheu, die wir vor der dunklen, weitgähnenden Kluft,
dem Donner der Lawine, vor den einstürzenden Eisthürmen, den
bedrohlich überhängenden Schneebalkonen empfinden. Die Be-
gehung eines Gletschers, dessen Klüfte offen zu Tage liegen, ist
völlig gefahrlos, nur hat man sich, solange die Oberfläche hart
ist, vor dem Ausgleiten zu hüten. Auch sonst gilt es, die Augen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0063" n="157"/><fw place="top" type="header">Zur Entwicklungsgeschichte des
 Alpinismus.<lb/></fw>rinnendem Schmelzwasser und starken Nachtfrösten, ja selbst im<lb/>
Sommer nach
 schweren Regengüssen und plötzlicher Ausheiterung,<lb/>
zeigen sich manchmal auch minder hohe
 Felsberge vereist. Beraste<lb/>
Erhebungen sind im Winter oft so fest gefroren, wie ein
 Eishang<lb/>
und in diesem Zustande noch gefährlicher, als dieser. Da auf<lb/>
vereisten Felsen und
 auf gefrorenem Rasen der Pickel gleich<lb/>
wirkungslos ist, so bleibt kein anderer Ausweg, als
 dieselben zu<lb/>
meiden oder mit Steigeisen anzugreifen. Wenn letztere irgendwo<lb/>
nothwendig sind,
 so sind sie es in diesem Falle. Mit Hülfe des<lb/>
mit Steigeisen bewehrten Fusses können wir auch da
 noch sicher<lb/>
auftreten, wo wir sonst zur Umkehr gezwungen wären. Auch<lb/>
Jäger, Holzhauer,
 Heuzieher steigen im Winter nicht auf die<lb/>
Berge, ohne die &#x201E;Eisen&#x201C; mitzunehmen.
 Steile Rasenberge oder<lb/>
von Rasenhängen durchbrochene Felswände, wie wir solche im<lb/>
Kalk- und
 Schiefergebirge antreffen, können bei Ausserachtlassung<lb/>
der Vorsicht auch im Sommer Gefahr
 bringen. Die begrasten<lb/>
Felsberge sind das Terrain der Alpenblumen-Pflücker, die
 all-<lb/>
jährlich die Zahl vulgärer Bergunfälle bedeutend vermehren. Die<lb/>
Erklimmung eines
 steilen Rasenberges ist nicht Sache eines<lb/>
Spaziergängers, und schneebedeckter Rasen gewährt
 selbst den<lb/>
Steigeisen nicht immer Halt. Unbedingt erfordern auch die Gras-<lb/>
berge eine
 entsprechende Ausrüstung, das Seil ist zur gegenseitigen<lb/>
Versicherung nöthig, und statt des
 Schattenspenders wird der Eis-<lb/>
pickel gute Dienste leisten.</p><lb/>
        </div>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">V.</hi> </head><lb/>
          <p>Aus der Felsregion steigen wir empor in das Bereich des<lb/>
ewigen Eises und Firns. Wer zum
 ersten Male einen Gletscher<lb/>
betritt, wird erstaunt sein über die Grösse und Pracht dieser
 Eis-<lb/>
gebilde und über das Eigenthümliche und Fremdartige ihres<lb/>
Baues. Zur entzückten
 Bewunderung, welche uns die blaugrünen<lb/>
Eispaläste, die abenteuerlichen Nadeln, Thürme und Säulen
 und<lb/>
das Gefunkel der Schneekrystalle einflössen, gesellt sich die ehr-<lb/>
furchtsvolle Scheu,
 die wir vor der dunklen, weitgähnenden Kluft,<lb/>
dem Donner der Lawine, vor den einstürzenden
 Eisthürmen, den<lb/>
bedrohlich überhängenden Schneebalkonen empfinden. Die Be-<lb/>
gehung eines
 Gletschers, dessen Klüfte offen zu Tage liegen, ist<lb/>
völlig gefahrlos, nur hat man sich, solange
 die Oberfläche hart<lb/>
ist, vor dem Ausgleiten zu hüten. Auch sonst gilt es, die Augen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[157/0063] Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus. rinnendem Schmelzwasser und starken Nachtfrösten, ja selbst im Sommer nach schweren Regengüssen und plötzlicher Ausheiterung, zeigen sich manchmal auch minder hohe Felsberge vereist. Beraste Erhebungen sind im Winter oft so fest gefroren, wie ein Eishang und in diesem Zustande noch gefährlicher, als dieser. Da auf vereisten Felsen und auf gefrorenem Rasen der Pickel gleich wirkungslos ist, so bleibt kein anderer Ausweg, als dieselben zu meiden oder mit Steigeisen anzugreifen. Wenn letztere irgendwo nothwendig sind, so sind sie es in diesem Falle. Mit Hülfe des mit Steigeisen bewehrten Fusses können wir auch da noch sicher auftreten, wo wir sonst zur Umkehr gezwungen wären. Auch Jäger, Holzhauer, Heuzieher steigen im Winter nicht auf die Berge, ohne die „Eisen“ mitzunehmen. Steile Rasenberge oder von Rasenhängen durchbrochene Felswände, wie wir solche im Kalk- und Schiefergebirge antreffen, können bei Ausserachtlassung der Vorsicht auch im Sommer Gefahr bringen. Die begrasten Felsberge sind das Terrain der Alpenblumen-Pflücker, die all- jährlich die Zahl vulgärer Bergunfälle bedeutend vermehren. Die Erklimmung eines steilen Rasenberges ist nicht Sache eines Spaziergängers, und schneebedeckter Rasen gewährt selbst den Steigeisen nicht immer Halt. Unbedingt erfordern auch die Gras- berge eine entsprechende Ausrüstung, das Seil ist zur gegenseitigen Versicherung nöthig, und statt des Schattenspenders wird der Eis- pickel gute Dienste leisten. V. Aus der Felsregion steigen wir empor in das Bereich des ewigen Eises und Firns. Wer zum ersten Male einen Gletscher betritt, wird erstaunt sein über die Grösse und Pracht dieser Eis- gebilde und über das Eigenthümliche und Fremdartige ihres Baues. Zur entzückten Bewunderung, welche uns die blaugrünen Eispaläste, die abenteuerlichen Nadeln, Thürme und Säulen und das Gefunkel der Schneekrystalle einflössen, gesellt sich die ehr- furchtsvolle Scheu, die wir vor der dunklen, weitgähnenden Kluft, dem Donner der Lawine, vor den einstürzenden Eisthürmen, den bedrohlich überhängenden Schneebalkonen empfinden. Die Be- gehung eines Gletschers, dessen Klüfte offen zu Tage liegen, ist völlig gefahrlos, nur hat man sich, solange die Oberfläche hart ist, vor dem Ausgleiten zu hüten. Auch sonst gilt es, die Augen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Gloning, Heike Müller, Bastian Schmidt, Sonja Bayer: Texterfassung und Korrekturen (2013-05-07T06:54:31Z)
Hannah Sophia Glaum: Konversion nach XML (2013-05-07T06:54:31Z)
Melanie Henss: Nachkorrekturen (2013-05-07T06:54:31Z)
ANNO – Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-05-07T06:54:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Seiten- und Zeilenumbrüche markiert. Silbentrennung entsprechend Vorlage.
  • Bogensignaturen/Kustoden und Kolumnentitel ausgezeichnet, Hervorhebungen ebenso.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/purtscheller_alpinismus_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/purtscheller_alpinismus_1894/63
Zitationshilfe: Purtscheller, Ludwig: Zur Entwicklungsgeschichte des Alpinismus und der alpinen Technik in den Deutschen und Oesterreichischen Alpen. In: Zeitschrift des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins. Band XXV. Berlin, 1894, S. 95-176, hier S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/purtscheller_alpinismus_1894/63>, abgerufen am 28.03.2024.