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[Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755.

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Erstes Buch.
nennen, durch dessen Liebe du glücklich werden
sollst: Die Tochter gieng, und kehrte traurig
zurück, weil sie diesen Mann nicht erfuhr. Der
Weltweise sagte zu seinen Schülern: Gehet
hinaus, und suchet den T' Siamma, er wird
euch eine Weisheit lehren, gegen welche die
meinige nur Thorheit ist: Sie giengen, und such-
ten ihn, und klagten es ihrem Lehrer, daß sie
keine Weisheit gefunden hätten.

Dieses war die Art, mit welcher die Jnn-
wohner das Andenken ihres unvergeßlichen
T' Siamma feyerten. Sie fasteten an diesem
Tage, und das ganze Land war traurig.

Nach tausend Jahren ward die Religion in
Chiekock verächtlich, da das Land einen König
bekam, der sich der Religion seiner Väter schämte.
Die Großen des Volks waren starke Geister,
und nur der arme Pöbel betete noch. Um diese
Zeit fiel auch die Hochachtung, die man für das
Andenken des T' Siamma hatte. Sein Got-
tesdienst verkehrte sich in Völlerey, und pöbel-
hafte Ausschweifungen. Sie sandten einander
noch immer zu dem T' Siamma, aber nicht
tugendhaft, nicht weise zu werden, nein, nur
ihren Muthwillen zu kützeln. Und fanden sie
noch einen, welcher fromm und treuherzig genug
war, sich zu dem T' Siamma schicken zu las-
sen, den hielten sie für einen Narren. Dem

Pöbel

Erſtes Buch.
nennen, durch deſſen Liebe du gluͤcklich werden
ſollſt: Die Tochter gieng, und kehrte traurig
zuruͤck, weil ſie dieſen Mann nicht erfuhr. Der
Weltweiſe ſagte zu ſeinen Schuͤlern: Gehet
hinaus, und ſuchet den T’ Siamma, er wird
euch eine Weisheit lehren, gegen welche die
meinige nur Thorheit iſt: Sie giengen, und ſuch-
ten ihn, und klagten es ihrem Lehrer, daß ſie
keine Weisheit gefunden haͤtten.

Dieſes war die Art, mit welcher die Jnn-
wohner das Andenken ihres unvergeßlichen
T’ Siamma feyerten. Sie faſteten an dieſem
Tage, und das ganze Land war traurig.

Nach tauſend Jahren ward die Religion in
Chiekock veraͤchtlich, da das Land einen Koͤnig
bekam, der ſich der Religion ſeiner Vaͤter ſchaͤmte.
Die Großen des Volks waren ſtarke Geiſter,
und nur der arme Poͤbel betete noch. Um dieſe
Zeit fiel auch die Hochachtung, die man fuͤr das
Andenken des T’ Siamma hatte. Sein Got-
tesdienſt verkehrte ſich in Voͤllerey, und poͤbel-
hafte Ausſchweifungen. Sie ſandten einander
noch immer zu dem T’ Siamma, aber nicht
tugendhaft, nicht weiſe zu werden, nein, nur
ihren Muthwillen zu kuͤtzeln. Und fanden ſie
noch einen, welcher fromm und treuherzig genug
war, ſich zu dem T’ Siamma ſchicken zu laſ-
ſen, den hielten ſie fuͤr einen Narren. Dem

Poͤbel
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[493[491]/0515] Erſtes Buch. nennen, durch deſſen Liebe du gluͤcklich werden ſollſt: Die Tochter gieng, und kehrte traurig zuruͤck, weil ſie dieſen Mann nicht erfuhr. Der Weltweiſe ſagte zu ſeinen Schuͤlern: Gehet hinaus, und ſuchet den T’ Siamma, er wird euch eine Weisheit lehren, gegen welche die meinige nur Thorheit iſt: Sie giengen, und ſuch- ten ihn, und klagten es ihrem Lehrer, daß ſie keine Weisheit gefunden haͤtten. Dieſes war die Art, mit welcher die Jnn- wohner das Andenken ihres unvergeßlichen T’ Siamma feyerten. Sie faſteten an dieſem Tage, und das ganze Land war traurig. Nach tauſend Jahren ward die Religion in Chiekock veraͤchtlich, da das Land einen Koͤnig bekam, der ſich der Religion ſeiner Vaͤter ſchaͤmte. Die Großen des Volks waren ſtarke Geiſter, und nur der arme Poͤbel betete noch. Um dieſe Zeit fiel auch die Hochachtung, die man fuͤr das Andenken des T’ Siamma hatte. Sein Got- tesdienſt verkehrte ſich in Voͤllerey, und poͤbel- hafte Ausſchweifungen. Sie ſandten einander noch immer zu dem T’ Siamma, aber nicht tugendhaft, nicht weiſe zu werden, nein, nur ihren Muthwillen zu kuͤtzeln. Und fanden ſie noch einen, welcher fromm und treuherzig genug war, ſich zu dem T’ Siamma ſchicken zu laſ- ſen, den hielten ſie fuͤr einen Narren. Dem Poͤbel

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Zitationshilfe: [Rabener, Gottlieb Wilhelm]: Sammlung satirischer Schriften. Bd. 4. Leipzig, 1755, S. 493[491]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rabener_sammlung04_1755/515>, abgerufen am 25.04.2024.