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Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Erster Theil: Naturkunde der Liebe. Leipzig, 1798.

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Viertes Kapitel.

Drittes Merkmahl der Leidenschaft der Liebe; das Unbegreifliche des Zwecks, wornach wir streben.

Alle Anhänglichkeit hat einen Zweck, aber die Leidenschaft hat keinen. Was leidenschaftlich Liebende von einander wollen, das wissen sie nicht; was sie durch einander beglückt, das ist ihnen unbegreiflich! Sie wollen bey einander seyn unaufhörlich; auf einander einwirken in grenzenloser Ausdehnung und mit unermeßlicher Stärke. Das fühlen sie. Aber warum? Wozu? Darum fragen sie sich nicht, und wenn sie sich darum fragen, so beantworten sie es nicht.

Leidenschaft der Liebe strebt nach allem, worin Körper und Seele nur immer vereinigt gedacht werden mögen, ohne allen andern weitern Genuß, ohne allen weitern Vortheil; bloß um des Bewußtseyns willen, daß zwey Wesen eins sind.

O Geliebte! welche geheime Kraft entfärbt mein Antlitz, wenn ich dich nur von fern erblicke; welcher Zauber läßt mich deine Gegenwart ahnden, ohne dich zu sehen und zu hören, und treibt mein Blut mit Ungestüm aus meinen Adern dir entgegen. Fühlt denn mein Körper den Zusammenhang mit dir ganz unabhängig von der Mitwirkung der Seele? Und wenn sie, die Seele, es ist, welche die Vorstellung der Nähe allein mit Wonne erfüllt, wie unerklärbar ist auch ihr Zusammenhang mit deinem Wesen! Was hat denn meine Seele davon, daß ich so gern die Luft einathme, die unser beyder Körper im gemeinschaftlichen Raume umfließt? Warum entzückt mich das bloße Geräusch deiner Tritte, die sich nicht zu mir wenden, der Ton deiner Stimme,

Viertes Kapitel.

Drittes Merkmahl der Leidenschaft der Liebe; das Unbegreifliche des Zwecks, wornach wir streben.

Alle Anhänglichkeit hat einen Zweck, aber die Leidenschaft hat keinen. Was leidenschaftlich Liebende von einander wollen, das wissen sie nicht; was sie durch einander beglückt, das ist ihnen unbegreiflich! Sie wollen bey einander seyn unaufhörlich; auf einander einwirken in grenzenloser Ausdehnung und mit unermeßlicher Stärke. Das fühlen sie. Aber warum? Wozu? Darum fragen sie sich nicht, und wenn sie sich darum fragen, so beantworten sie es nicht.

Leidenschaft der Liebe strebt nach allem, worin Körper und Seele nur immer vereinigt gedacht werden mögen, ohne allen andern weitern Genuß, ohne allen weitern Vortheil; bloß um des Bewußtseyns willen, daß zwey Wesen eins sind.

O Geliebte! welche geheime Kraft entfärbt mein Antlitz, wenn ich dich nur von fern erblicke; welcher Zauber läßt mich deine Gegenwart ahnden, ohne dich zu sehen und zu hören, und treibt mein Blut mit Ungestüm aus meinen Adern dir entgegen. Fühlt denn mein Körper den Zusammenhang mit dir ganz unabhängig von der Mitwirkung der Seele? Und wenn sie, die Seele, es ist, welche die Vorstellung der Nähe allein mit Wonne erfüllt, wie unerklärbar ist auch ihr Zusammenhang mit deinem Wesen! Was hat denn meine Seele davon, daß ich so gern die Luft einathme, die unser beyder Körper im gemeinschaftlichen Raume umfließt? Warum entzückt mich das bloße Geräusch deiner Tritte, die sich nicht zu mir wenden, der Ton deiner Stimme,

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[246/0246] Viertes Kapitel. Drittes Merkmahl der Leidenschaft der Liebe; das Unbegreifliche des Zwecks, wornach wir streben. Alle Anhänglichkeit hat einen Zweck, aber die Leidenschaft hat keinen. Was leidenschaftlich Liebende von einander wollen, das wissen sie nicht; was sie durch einander beglückt, das ist ihnen unbegreiflich! Sie wollen bey einander seyn unaufhörlich; auf einander einwirken in grenzenloser Ausdehnung und mit unermeßlicher Stärke. Das fühlen sie. Aber warum? Wozu? Darum fragen sie sich nicht, und wenn sie sich darum fragen, so beantworten sie es nicht. Leidenschaft der Liebe strebt nach allem, worin Körper und Seele nur immer vereinigt gedacht werden mögen, ohne allen andern weitern Genuß, ohne allen weitern Vortheil; bloß um des Bewußtseyns willen, daß zwey Wesen eins sind. O Geliebte! welche geheime Kraft entfärbt mein Antlitz, wenn ich dich nur von fern erblicke; welcher Zauber läßt mich deine Gegenwart ahnden, ohne dich zu sehen und zu hören, und treibt mein Blut mit Ungestüm aus meinen Adern dir entgegen. Fühlt denn mein Körper den Zusammenhang mit dir ganz unabhängig von der Mitwirkung der Seele? Und wenn sie, die Seele, es ist, welche die Vorstellung der Nähe allein mit Wonne erfüllt, wie unerklärbar ist auch ihr Zusammenhang mit deinem Wesen! Was hat denn meine Seele davon, daß ich so gern die Luft einathme, die unser beyder Körper im gemeinschaftlichen Raume umfließt? Warum entzückt mich das bloße Geräusch deiner Tritte, die sich nicht zu mir wenden, der Ton deiner Stimme,

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Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Erster Theil: Naturkunde der Liebe. Leipzig, 1798, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus01_1798/246>, abgerufen am 29.03.2024.