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Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Zweyter Theil: Aesthetik der Liebe. Leipzig, 1798.

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Tage lang hält die Dame die Trennung aus. In der Nacht auf den vierten entzieht sie sich der Wachsamkeit ihrer Beobachter mit der größten Gefahr für ihren Ruf und ihr Leben, und schleicht, mit der Blendlaterne in der Hand, in die Wohnung des Geliebten. Sie erwartet er werde in rastloser Verzweiflung empörter Liebe wachen. Aber nein, sie findet ihn schlafend in der sanftesten Ruhe. Außer sich vor Schmerz und Erstaunen bey diesem Anblick, läßt sie die Laterne fallen. Der Ritter erwacht, und ruft: Wer da? - "E tu dormi! Du kannst schlafen," spricht das Weib im Tone des jammernden Vorwurfs, und sinkt in Ohnmacht! - Unbekümmert darum, daß diese Stärke der Empfindung größten Theils an der betrogenen Eitelkeit auf die Macht veralteter Reitze lag, schreyen wir auf über vollkommne und edle Liebe!

Ich will jetzt noch einige Beyspiele eines äußern Schmucks anführen, den wir der Liebe beygelegt glauben, und womit im Grunde nur Geschlechtssympathie bekleidet ist.

Sappho findet in dem niedergedrückten Grase noch die Spuren von Phaons ehmahligen Umarmungen, und benetzt sie mit ihren Thränen; - Rousseau theilt im einfältigen süßen Genuß des traulichen Zusammenseyns sein sparsames Mahl auf der Fensterbank im vierten Stock mit seiner Therese; - Rousseau schreyet laut auf beym Anblick der Pervenche, des Immergrüns, das er ehmahls mit seiner Freundin Warens gesucht hatte. - Die Heroine beym Ovid erzählt ihrem Liebhaber eine Menge kleiner Umstände, von denen es unbegreiflich scheint, wie sie zu ihrer Kenntniß haben kommen können,

Tage lang hält die Dame die Trennung aus. In der Nacht auf den vierten entzieht sie sich der Wachsamkeit ihrer Beobachter mit der größten Gefahr für ihren Ruf und ihr Leben, und schleicht, mit der Blendlaterne in der Hand, in die Wohnung des Geliebten. Sie erwartet er werde in rastloser Verzweiflung empörter Liebe wachen. Aber nein, sie findet ihn schlafend in der sanftesten Ruhe. Außer sich vor Schmerz und Erstaunen bey diesem Anblick, läßt sie die Laterne fallen. Der Ritter erwacht, und ruft: Wer da? – „E tu dormi! Du kannst schlafen, spricht das Weib im Tone des jammernden Vorwurfs, und sinkt in Ohnmacht! – Unbekümmert darum, daß diese Stärke der Empfindung größten Theils an der betrogenen Eitelkeit auf die Macht veralteter Reitze lag, schreyen wir auf über vollkommne und edle Liebe!

Ich will jetzt noch einige Beyspiele eines äußern Schmucks anführen, den wir der Liebe beygelegt glauben, und womit im Grunde nur Geschlechtssympathie bekleidet ist.

Sappho findet in dem niedergedrückten Grase noch die Spuren von Phaons ehmahligen Umarmungen, und benetzt sie mit ihren Thränen; – Rousseau theilt im einfältigen süßen Genuß des traulichen Zusammenseyns sein sparsames Mahl auf der Fensterbank im vierten Stock mit seiner Therese; – Rousseau schreyet laut auf beym Anblick der Pervenche, des Immergrüns, das er ehmahls mit seiner Freundin Warens gesucht hatte. – Die Heroine beym Ovid erzählt ihrem Liebhaber eine Menge kleiner Umstände, von denen es unbegreiflich scheint, wie sie zu ihrer Kenntniß haben kommen können,

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Tage lang hält die Dame die Trennung aus. In der Nacht auf den vierten entzieht sie sich der Wachsamkeit ihrer Beobachter mit der größten Gefahr für ihren Ruf und ihr Leben, und schleicht, mit der Blendlaterne in der Hand, in die Wohnung des Geliebten. Sie erwartet er werde in rastloser Verzweiflung empörter Liebe wachen. Aber nein, sie findet ihn schlafend in der sanftesten Ruhe. Außer sich vor Schmerz und Erstaunen bey diesem Anblick, läßt sie die Laterne fallen. Der Ritter erwacht, und ruft: Wer da? &#x2013; <hi rendition="#aq">&#x201E;E tu dormi!</hi> Du kannst schlafen,<hi rendition="#aq">&#x201C;</hi> spricht das Weib im Tone des jammernden Vorwurfs, und sinkt in Ohnmacht! &#x2013; Unbekümmert darum, daß diese Stärke der Empfindung größten Theils an der betrogenen Eitelkeit auf die Macht veralteter Reitze lag, schreyen wir auf über vollkommne und edle Liebe!</p>
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[56/0056] Tage lang hält die Dame die Trennung aus. In der Nacht auf den vierten entzieht sie sich der Wachsamkeit ihrer Beobachter mit der größten Gefahr für ihren Ruf und ihr Leben, und schleicht, mit der Blendlaterne in der Hand, in die Wohnung des Geliebten. Sie erwartet er werde in rastloser Verzweiflung empörter Liebe wachen. Aber nein, sie findet ihn schlafend in der sanftesten Ruhe. Außer sich vor Schmerz und Erstaunen bey diesem Anblick, läßt sie die Laterne fallen. Der Ritter erwacht, und ruft: Wer da? – „E tu dormi! Du kannst schlafen,“ spricht das Weib im Tone des jammernden Vorwurfs, und sinkt in Ohnmacht! – Unbekümmert darum, daß diese Stärke der Empfindung größten Theils an der betrogenen Eitelkeit auf die Macht veralteter Reitze lag, schreyen wir auf über vollkommne und edle Liebe! Ich will jetzt noch einige Beyspiele eines äußern Schmucks anführen, den wir der Liebe beygelegt glauben, und womit im Grunde nur Geschlechtssympathie bekleidet ist. Sappho findet in dem niedergedrückten Grase noch die Spuren von Phaons ehmahligen Umarmungen, und benetzt sie mit ihren Thränen; – Rousseau theilt im einfältigen süßen Genuß des traulichen Zusammenseyns sein sparsames Mahl auf der Fensterbank im vierten Stock mit seiner Therese; – Rousseau schreyet laut auf beym Anblick der Pervenche, des Immergrüns, das er ehmahls mit seiner Freundin Warens gesucht hatte. – Die Heroine beym Ovid erzählt ihrem Liebhaber eine Menge kleiner Umstände, von denen es unbegreiflich scheint, wie sie zu ihrer Kenntniß haben kommen können,

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Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Zweyter Theil: Aesthetik der Liebe. Leipzig, 1798, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus02_1798/56>, abgerufen am 25.04.2024.