Nicht erst heutzutage hat die öffentliche Meinung Ein- fluß in der Welt bekommen: in allen Jahrhunderten des neueren Europa hat sie ein wichtiges Lebenselement ausge- macht. Wer möchte sagen, woher sie entspringt, wie sie sich bildet. Geheime Quellen nähren sie: ohne vie- ler Gründe zu bedürfen, bemächtigt sie sich der Geister: durch eine unwillkührliche Ueberzeugung fesselt sie die Mehr- zahl. Sie ist ein Product unserer Gemeinschaftlichkeit. Aber nur in den äußersten Umrissen ist sie mit sich selber in Uebereinstimmung. In unzähligen größern und kleinern Kreisen wird sie auf eigenthümliche Weise wieder hervor- gebracht: immer neue Wahrnehmungen und Erfahrungen strömen ihr zu: und so ist sie in unaufhörlicher Metamor- phose begriffen: flüchtig, vielgestaltig: zuweilen receptiv, zuweilen fordernd und nöthigend: oft mit einem richtigen Gefühl der Mängel, der Bedürfnisse: dessen dagegen was auszurichten und ins Werk zu setzen, sich fast niemals be- wußt: mit der Wahrheit und dem Recht zuweilen mehr, zuweilen minder im Einklange: mehr eine Tendenz des Le- bens und des Augenblicks, als eine fixirte Lehre. Selt- sam, wie sie sogar oft in ihr Gegentheil umschlägt. Sie hat das Papstthum gründen, sie hat es auch auflösen hel-
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Nicht erſt heutzutage hat die oͤffentliche Meinung Ein- fluß in der Welt bekommen: in allen Jahrhunderten des neueren Europa hat ſie ein wichtiges Lebenselement ausge- macht. Wer moͤchte ſagen, woher ſie entſpringt, wie ſie ſich bildet. Geheime Quellen naͤhren ſie: ohne vie- ler Gruͤnde zu beduͤrfen, bemaͤchtigt ſie ſich der Geiſter: durch eine unwillkuͤhrliche Ueberzeugung feſſelt ſie die Mehr- zahl. Sie iſt ein Product unſerer Gemeinſchaftlichkeit. Aber nur in den aͤußerſten Umriſſen iſt ſie mit ſich ſelber in Uebereinſtimmung. In unzaͤhligen groͤßern und kleinern Kreiſen wird ſie auf eigenthuͤmliche Weiſe wieder hervor- gebracht: immer neue Wahrnehmungen und Erfahrungen ſtroͤmen ihr zu: und ſo iſt ſie in unaufhoͤrlicher Metamor- phoſe begriffen: fluͤchtig, vielgeſtaltig: zuweilen receptiv, zuweilen fordernd und noͤthigend: oft mit einem richtigen Gefuͤhl der Maͤngel, der Beduͤrfniſſe: deſſen dagegen was auszurichten und ins Werk zu ſetzen, ſich faſt niemals be- wußt: mit der Wahrheit und dem Recht zuweilen mehr, zuweilen minder im Einklange: mehr eine Tendenz des Le- bens und des Augenblicks, als eine fixirte Lehre. Selt- ſam, wie ſie ſogar oft in ihr Gegentheil umſchlaͤgt. Sie hat das Papſtthum gruͤnden, ſie hat es auch aufloͤſen hel-
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Nicht erſt heutzutage hat die oͤffentliche Meinung Ein-
fluß in der Welt bekommen: in allen Jahrhunderten des
neueren Europa hat ſie ein wichtiges Lebenselement ausge-
macht. Wer moͤchte ſagen, woher ſie entſpringt, wie ſie
ſich bildet. Geheime Quellen naͤhren ſie: ohne vie-
ler Gruͤnde zu beduͤrfen, bemaͤchtigt ſie ſich der Geiſter:
durch eine unwillkuͤhrliche Ueberzeugung feſſelt ſie die Mehr-
zahl. Sie iſt ein Product unſerer Gemeinſchaftlichkeit.
Aber nur in den aͤußerſten Umriſſen iſt ſie mit ſich ſelber
in Uebereinſtimmung. In unzaͤhligen groͤßern und kleinern
Kreiſen wird ſie auf eigenthuͤmliche Weiſe wieder hervor-
gebracht: immer neue Wahrnehmungen und Erfahrungen
ſtroͤmen ihr zu: und ſo iſt ſie in unaufhoͤrlicher Metamor-
phoſe begriffen: fluͤchtig, vielgeſtaltig: zuweilen receptiv,
zuweilen fordernd und noͤthigend: oft mit einem richtigen
Gefuͤhl der Maͤngel, der Beduͤrfniſſe: deſſen dagegen was
auszurichten und ins Werk zu ſetzen, ſich faſt niemals be-
wußt: mit der Wahrheit und dem Recht zuweilen mehr,
zuweilen minder im Einklange: mehr eine Tendenz des Le-
bens und des Augenblicks, als eine fixirte Lehre. Selt-
ſam, wie ſie ſogar oft in ihr Gegentheil umſchlaͤgt. Sie
hat das Papſtthum gruͤnden, ſie hat es auch aufloͤſen hel-
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Ranke, Leopold von: Die römischen Päpste. Bd. 1. Berlin, 1834, S. [131]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_paepste01_1834/157>, abgerufen am 08.11.2024.
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